Sarum
finanziell nicht nötig gehabt hätte. Sie arbeitete in den langen Sommerferien als Krankenschwester im Krankenhaus von Lord Radnor. »Wir hätten sie schon längst verloren, wenn nicht ihr Onkel gewesen wäre«, meinte Mason.
Die Ankunft ihres Onkels Stephen war eine der ganz großen Enttäuschungen ihres Lebens. Er wurde eines schönen Dezembertages von der kleinen Dampfeisenbahn von Southampton gebracht – eine magere Gestalt in den Fünfzigern, mit blauen, unsteten Augen in einem gelblichen Gesicht. Er war in einen Schal und eine Decke gehüllt und ging steif am Stock. Er sprach sehr leise, äußerte ständig Wünsche und zog nicht einen Augenblick lang in Betracht, daß seine Nichte daran denken könnte, ihn zu verlassen.
Es war Jane nie zuvor in den Sinn gekommen, daß ein Leben im Dienst am Mitmenschen einen Mann zum Egoisten machen könnte. »Ich fürchte, meine Liebe, daß mein Aufenthalt hier zeitlich begrenzt sein wird«, sagte er bei seiner Ankunft betrübt. Er sagte das immer wieder, wenn er steif in der Stadt umherging und sich über die ihm gebührende Verehrung freute. Jane mußte sich eingestehen, daß die Ankündigung seines baldigen Hinscheidens für sie eher verheißungsvoll klang, als daß sie darüber traurig gewesen wäre.
»Kannst du es wirklich verantworten zu unterrichten, wenn es hier im Haus so viel zu tun gibt?« jammerte er mitunter. »Aber ja, Onkel«, entgegnete sie und entfernte sich auf möglichst höfliche Weise.
Porters hatte ihr wieder einen Antrag gemacht. »Wenn es sich darum handelt, für Euren Onkel zu sorgen, wäre es mir eine Ehre…«
»Ganz unmöglich«, versicherte sie und bat ihn, nie wieder davon zu sprechen.
Er hatte eine neue Rolle in ihrem Leben übernommen, die seine Wunde zu heilen schien und die auch Jane akzeptieren konnte: die eines Beraters. Denn für Porters war es klar, daß die junge Miss Shockley ein unberechenbares Geschöpf war und Rat brauchte.
Er hatte sich endgültig in der Stadt niedergelassen. Der neue Bahnhof und der Zustrom von Menschen hatten ein umfangreiches Bauprogramm im westlichen und nördlichen Stadtgebiet, wo Besitzungen der Familie Wyndham lagen, notwendig gemacht. Porters, der gut zu tun hatte, kaufte sich eine Villa.
Aufgrund der beschriebenen Umstände blieb Jane Shockley weiterhin in Sarum, und sie war oft im Dienst der Gemeinde tätig. Sie schätzte Mr. Mason und seine Methodisten, und sie bewunderte seine Bemühungen, eine regelrechte TemperenzBewegung in Salisbury aufzuziehen.
Jane besuchte mit ihm das Armenhaus, während ihre alten Freunde auf dem Kathedralgelände die hübschen Altenheime vorzogen, und es gab wenige Plätze in Sarum, die sie nicht kannte.
»Die Knechte auf dem Land machen mir am meisten Sorgen«, sagte Mason. »Sie haben das schwerste Los.«
Heute jedoch, als Jethro Wilson mit seinen bejammernswerten Kindern von dannen fuhr, erklärte er: »Mir tun alle Landwirte leid, Miss Shockley, aber dieser Mann dort hat sich alles selbst zuzuschreiben.«
Der große Jahrmarkt von Michaeli in Salisbury am Ende der Erntezeit war kein eigentlicher Markt, denn es wurden kaum Geschäfte getätigt. Trotzdem kam viel Geld in Umlauf – und so wurde der Brauch aufrechterhalten: Da waren Rechnungen von der Ernte zu begleichen, Kleider zu kaufen, es gab Vergnügungen verschiedenster Art, und auf dem Marktplatz waren bunte Stände aufgebaut. Das Fest dauerte drei Tage, und am Montag und Dienstag währte das Treiben bis elf Uhr nachts. Am Dienstag um neun Uhr sah Jane Jethro.
Er stand stocksteif an den gotischen Bögen am Poultry Cross. Ab und zu schwankte er leicht hin und her. Im Lichtschein der Fenster sah sie, daß sein Gesicht gerötet war; er nahm anscheinend seine Umgebung nicht zur Kenntnis. Wieder war er unrasiert. Die Kinder saßen spärlich bekleidet und zitternd vor Kälte unter dem Kreuz, aber die Umstehenden nahmen keine Notiz davon. Jane ging zu ihnen hinüber.
Jethros Lippen bewegten sich langsam. Er formte offenbar Worte, aber sie hörte keinen Laut. Da sagte der Junge: »Er singt, Miss.«
»Ist dir kalt?«
»Ja, Miss.«
Er singt! Sie ging näher und hielt ihr Ohr nahe an seine Lippen: »Ther vly be on the turnip.«
Kaum mehr als ein Flüstern – das alte rauhe Lied aus Wiltshire, das bei jeder Feierlichkeit gesungen wurde. Es war nur die erste Zeile, die er ständig wiederholte. »Macht er das lange?«
»Weiß nicht, Miss.«
Sie blickte die Kinder an. »Ihr erfriert ja noch. Kommt mit mir.« Zu
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