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Sarum

Sarum

Titel: Sarum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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schlug, daß sie sich abwenden mußten. Ein paar Minuten später sah Dluc die Kanus nicht mehr. Sie versuchten sicher, das Ufer zu erreichen, aber wie sollte ein Kanu diesen Seegang überstehen?
    Sogar der große Krona zitterte, als er sah, daß der Sturm seine Söhne in der Gewalt hatte.
    »Rette uns, Bruder!« rief er flehend dem Priester zu. »Sprich mit den Göttern!«
    Mit lauter Stimme rief Dluc dem Seegott die rituellen Gebete zu. Er nahm Goldstaub aus dem kleinen Beutel an seinem Gürtel und schleuderte ihn gegen das Wasser, doch der Wind warf ihm Gebete und Goldstaub ins Gesicht zurück.
    Die Kanus erreichten das Ufer nicht mehr. An diesem schrecklichen Tag, als das starke Handelsschiff seinen Kurs westwärts nahm, verlor Krona seine beiden Söhne. Viele Tage später fand man ihre Leichen weit entfernt ans Ufer gespült. Dluc beerdigte sie in Sarum. Zum erstenmal in seiner Geschichte war Sarum ohne Erben. Krona hatte keine anderen Brüder; von der ganzen Familie waren nur der Herrscher und der Hohepriester übriggeblieben, und Dluc hatte als Priester gelobt, niemals eine Frau anzurühren.
    Der Friede, der Sarum generationenlang begleitet hatte, gründete sich auf die Stärke der Familie, und jeder wußte, daß die Götter ihr gewogen waren. Kein Herrscher auf der ganzen Insel, sosehr er auch Sarums Reichtum begehren mochte, griff die Hüter des geheiligten Bodens an. Ohne Kronas Familie jedoch, die mit starker Hand regierte, sähe es anders aus. Dieses Land würde im Chaos versinken.
    Von diesem Tag an umwölkte sich Kronas Geist mit Trauer, und überall auf der Insel hieß es: »Die Götter haben sich von dem glücklichen Sarum abgewendet, sogar der Sonnengott selbst liebt die Hüter von Stonehenge nicht mehr.«
    Und wirklich war bei der Sonnenfinsternis im folgenden Monat die Hinfälligkeit Kronas unübersehbar. Sein lackschwarzes Haar wurde allmählich grau, seine einst aufrechte, stolze Gestalt ging gebeugt, seine scharfen Augen schienen erloschen, und lange Tage verbrachte er allein in seinem Haus.
    Jeden Tag brachte Dluc Opfer dar und betete im Tempel zu den Göttern – bislang ohne Erfolg. Doch beide, er und der Herrscher, wußten nur zu gut, was das Vordringlichste war: Krona mußte neue Erben haben. Es war viele Jahre her, seit die treue Ina ihrem Gemahl die beiden prächtigen Söhne geschenkt hatte. Dluc sah die Veränderung, die der Verlust bei ihr bewirkte, sehr genau.
    Sie war immer eine würdevolle Frau gewesen; wenn ihre Söhne nach erfolgreicher Jagd stolz vor dem Vater standen, sagte sie selten ein Wort, doch sie lächelte wohlwollend. Wenn die Söhne auf irgendeine Weise versagt hatten, gingen sie Krona möglichst aus dem Weg und kamen zu Ina. Dann litt sie mit ihnen, zeigte es allerdings nie. Sie war immer die gleiche: der ruhende Mittelpunkt der Familie. Und wenn das Paar auch über die erste Leidenschaft hinaus war, so wandte sich Krona immer noch mit tiefer Zuneigung ihr zu und sagte: »Komm zu mir, Mutter meiner Söhne.« Und nun lebten die beiden nicht mehr.
    »Ich werde ihm keine Kinder mehr schenken«, sagte sie zu Dluc. Sie selbst drängte den Herrscher: »Du mußt dir neue Frauen nehmen, junge Frauen, die dir Kinder gebären. Der Priester soll sie aussuchen.« Und so wurden seit Beginn des Winters neue Gemahlinnen für Krona ausgewählt.
    Bald nach der Tagundnachtgleiche im Herbst brachte Dluc ein großes Opfer dar: sechsundfünfzig Ochsen, sechsundfünfzig Widder und sechsundfünfzig Schafe. Danach hatte er dem Herrscher zwei junge Mädchen aus einer guten Familie zugeführt. Bei jeder lag er oftmals.
    Der Frühling kam und dann der Sommer. Die Ernte war wegen der schweren Regenfälle mager ausgefallen, und keines der Mädchen hatte empfangen. Die Menschen in Sarum waren entmutigt. Ebenso erging es Krona.
    »Du bist noch nicht alt«, beschwor ihn Dluc; der Anblick dieses traurigen grauhaarigen Mannes, der noch ein paar Monate zuvor ein strahlender Herrscher im Vollbesitz seiner Manneskraft gewesen war, tat ihm weh. »Wir werden andere finden.«
    Einige Zeit nach der Sommersonnenwende hatte er das letzte Mädchen zu Krona gebracht. Als er ihren vollen jungen Körper sah, lächelte sogar er, der wenig Gefallen an den anderen Mädchen zu finden schien. Der Priester hatte sie ausgewählt, weil das Getreide ihres Vaters in der letzten schlechten Ernte aus irgendeinem Grund hervorragend gediehen war. Da die Götter ihren Vater so sehr mit ihrer Gunst ausgezeichnet hatten, hoffte er,

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