Sarum
bekräftigen, nahm jedes Oberhaupt bei Antritt der Nachfolge den Namen Krona an, und auch das Priesteramt wurde im allgemeinen von einem Familienmitglied ausgeübt. So verhielt es sich auch jetzt: Dluc war der Halbbruder des Oberhauptes. Bei Dlucs Ankunft stand der Mond immer noch hoch am Himmel und tauchte den Platz in Licht. Es war ein eindrucksvoller Anblick. Die Gipfel der im Halbrund stehenden Bergkämme, die das Becken überschauten, waren gerodet, und auf einer Palisade hielten Kronas Männer Wache. Den vom Fluß her kommenden Besucher erinnerte diese Silhouette an die uneingeschränkte Macht des Herrschers von Sarum. Inmitten des Halbrunds, auf dem Rücken des Hügels, der den Taleingang bewachte, stand das Haus: weiß verputzt und von einer rotgestrichenen Mauer umgeben. Innerhalb der Mauer gab es mehrere Höfe und Lagerhäuser sowie die Wohngebäude Kronas.
Bei diesem Anblick erhellte ein kleines Lächeln Dlucs hageres Gesicht. »Glückliches Sarum«, murmelte er in der Erinnerung an bessere Zeiten vor sich hin.
Das Gebiet wurde von fast dreitausend Seelen bewohnt. Nie war es erobert worden. Generationenlang hieß es auf der ganzen Insel: »Kein Herrscher ist größer als Krona. Keine Familie ist edler als die seine, die über das glückliche Sarum herrscht.«
Dluc wurde ins Haus getragen. Drei Fackeln auf hölzernen Dreifüßen brannten in der kleinen Einfriedung vor dem Herrenhaus. An der Wand, auf dem strohgedeckten Dach und über der Tür hingen unzählige Geweihe, Hörner und Wildschweinschädel – Kronas Trophäen aus vielen Jagdzügen. Ohne Zögern schlüpfte der große Priester durch die Tür. Drinnen brannten Wachskerzen. Ein Diener stand furchtsam am Eingang und warf sich zu Boden, als er Dluc nahen sah. »Wo ist Krona?« fragte der Priester streng. »Dort drinnen.«
Er schritt weiter und gelangte in ein kleineres Gemach, das durch einen schweren Vorhang vom Hauptraum getrennt war. Es war Kronas Schlafgemach. Dluc schob den Vorhang rasch zur Seite. Neben Krona kauerte, zitternd vor Angst, ein Mädchen auf dem Boden. Dluc erkannte die Tochter eines Bauern, die er Krona vor einem Monat geschickt hatte; sie war die letzte in der Reihe der Gemahlinnen, die sich der große Herrscher in jüngster Zeit genommen hatte. Sie war ein schwerfälliges Geschöpf von fünfzehn Jahren, mit einem sinnlichen Mund, zarten jungen Brüsten und breiten Hüften, zum Gebären wie geschaffen. Dluc runzelte die Stirn, als er sie in dieser Haltung sah. Vor ein paar Tagen schien der Herrscher noch Gefallen an ihr zu finden. Dann fiel sein Blick auf Krona.
Der Herrscher hatte sich in den letzten Monaten, seit die Tragödie die Zukunft Sarums bedrohte, vollkommen verändert. Die befehlsgewohnten Augen waren eingesunken, die einst stattliche Gestalt war zusammengefallen, und seine Schultern hingen nach vorn. Sein voller schwarzer Lockenbart war mit grauen Fäden durchzogen. Aber trotz der Sorgen war die edle Vornehmheit des Herrschers von Sarum geblieben. Krona stand am anderen Ende des Raumes vor dem großen, mit Pelzen bedeckten Lager, auf dem er gewöhnlich schlief. Er war halb im Schatten verborgen. Neben ihm, auf dem Boden, erkannte der Priester die Gestalt Inas, seiner Hauptfrau. Schon seit seiner Jünglingszeit war sie bei ihm, und obwohl sie allmählich alt wurde, war ihr der mächtige Herrscher immer noch ergeben.
Als sich die Augen des Priesters an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, bemerkte er, daß mit Krona irgend etwas vorgefallen sein mußte. In seinen Augen lag ein Ausdruck von Wildheit, den Dluc noch nie an ihm wahrgenommen hatte. »Ich bin da«, sagte Dluc leise.
Als Krona endlich sprach, war seine Stimme nur ein heiseres Flüstern. »Sie hat mir meine Männlichkeit geraubt.« Er zeigte auf das Mädchen, das noch immer auf dem Boden kauerte. Dluc streifte sie mit einem raschen Blick.
»Nimm sie mit«, fuhr der Herrscher fort. »Opfere sie dem Sonnengott, Hoherpriester, damit ich wieder ein Mann werde.« Dluc überlegte. Die Menschenopfer im Tempel unterlagen strengen Gesetzen. Nur Verbrecher oder an wichtigen Festtagen von den Priestern ausgewählte Menschen wurden getötet. Der Hohepriester opferte kein Mädchen ohne Grund, auch nicht, wenn Krona selbst es wünschte. Der Priester schüttelte den Kopf. »Ich weiß viele Mittel gegen Impotenz. Ein Heiltrank wird dir helfen«, antwortete er ruhig. Krona machte eine wegwerfende Geste und starrte den Priester ärgerlich an. Dann setzte er sich langsam auf
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