Sarum
Mut. Alle Wasserläufe und Gräben waren unter den Schneeverwehungen verschwunden. Es klarte zwar auf, aber es war kalt – und es gab keine Anzeichen für eine Schneeschmelze. Selbst wenn es tauen sollte, wäre der Grund so aufgeweicht, daß die Steine vor Ende des Frühlings kaum weiterbefördert werden konnten. Nooma zweifelte daran, daß der Henge unter diesen Bedingungen rechtzeitig fertiggestellt werden könnte. An diesem Morgen kamen drei von Dluc gesandte Priester. Sie richteten kaum ein Wort an den Steinmetz, untersuchten die Sarsens und blickten über die weißen Anhöhen. »Wie werdet ihr sie von der Stelle bringen?« fragten sie schließlich.
Nooma sah verzweifelt vor sich hin: »Ich weiß es nicht.«
»Finde eine Möglichkeit«, sagten sie und machten sich auf den Rückweg. Der Steinmetz zog den Kopf zwischen die Schultern und überlegte. Er wußte sehr wohl, welches Schicksal ihn erwartete, falls er versagte. Als Dlucs Zorn über die Unfähigkeit Noomas verraucht war und er den Schock des plötzlichen Schneesturms überwunden hatte, traf er seine Anordnungen; der Altarstein im Henge wurde vom Schnee befreit, und Dluc selbst opferte dem Sonnengott sechs Widder, während die Priester im Schnee knieten.
»Großer Sonnengott«, rief er, »dein Diener Dluc hat dir sein Vertrauen geschenkt. Wir fügen uns deinem Willen.« Er erstickte alle Zweifel in sich und sagte zu den Priestern: »Der Tempel wird vollendet. Es ist der Wille der Götter. Der Sonnengott wird uns beistehen.« Und der Sonnengott erhörte sie.
Am dritten Tag nämlich brachte ein warmer Wind aus Südwest schwere Regenfälle mit sich, die den ganzen Tag über anhielten. Tauwetter setzte ein. In derselben Nacht bildete sich auf den Anhöhen bereits Schmelzwasser, der Wind drehte, der Himmel wurde klar, und schlagartig gab es strengen Frost. Am folgenden Morgen bot sich Nooma ein unfaßlicher Anblick: So weit das Auge reichte, breitete sich unter dem blauen Himmel schimmerndes Eis. Nooma wurde von den sich spiegelnden Sonnenstrahlen schier geblendet. Er stampfte mit dem Fuß auf: Der Boden war beinhart. Nooma warf einen Stein aufs Eis: Der Stein schlitterte mehr als hundert Meter weit. »Ich glaube«, murmelte Nooma lächelnd, »jetzt können wir die Sarsens fortbewegen.«
Er hatte recht. Diesmal gelang ihnen die Konstruktion der riesigen Schlitten. Die Männer zogen sie an langen Ledergurten trotz ihrer enormen Last leicht übers Eis. Dabei gab es allerdings immer noch Schwierigkeiten. Auf den langen Abhängen zwischen den Höhenzügen mußten mehrere Männer vorausgehen und die Schlitten steuern, die anderen mußten von hinten abbremsen, damit die Schlitten nicht ein zu hohes Tempo entwickelten. Die Gefahr war groß, daß die Schlitten sich selbständig machten. Dies geschah tatsächlich zweimal: Sie wurden immer schneller, rissen die Männer hinten an den Seilen mit sich, prallten auf die Männer vorn und begruben sie unter sich. Dabei gab es zwanzig Tote und zahlreiche Verletzte.
Die Steine jedoch gelangten wohlbehalten an ihren Bestimmungsort. Der Frost hielt länger als einen Monat an, und bis zur Wintersonnenwende hatten alle Sarsens den Henge erreicht. Krona gewann seine Zuversicht zurück; als sich die gewaltige Eisfläche über dem Hochland bildete, lösten die Götter ein weiteres Versprechen ein: Menona war schwanger. Wieder opferte Dluc den Göttern, die über Sarum wachten, ein Schaf.
Obwohl die Zeit zwischen Winter und Sommer in Sarum sehr geschäftig war, fühlten die Priester und die Bewohner von Monat zu Monat mehr eine große Last von sich genommen. Nooma arbeitete fieberhaft mit seinen Steinmetzen. Die letzten Sarsens wurden eilig zurechtgehauen, und täglich schafften die Handlanger Dutzende von Körben mit Steinresten weg. Neue Arbeitstrupps wurden beim Aufrichten der Sarsens eingesetzt. Allmählich schloß sich der Steinkreis.
Tark, der den Steinmetz fast täglich sah, konnte keine Veränderung in Noomas Verhalten ihm gegenüber feststellen. Bald nach der Geburt des kleinen Mädchens, das den Namen Pia erhielt, besuchte er Katesh. »Weiß er Bescheid?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, nicht. Er hat jedenfalls mir gegenüber nie etwas erwähnt.«
»Auch mir hat er keine Andeutung gemacht.« Tark wunderte sich über die Einfalt Noomas.
In all den Monaten sah Nooma seine Frau selten. Tark wußte, daß er öfters mit Sklavenmädchen zusammen war, aber er maß dem keine besondere Bedeutung bei: Nooma
Weitere Kostenlose Bücher