Sascha - Das Ende der Unschuld
gleich wieder. Sie will nur einen Bericht abholen. Da, auf der Kommode liegt er, Schatz. Nimm ihn nur.“
Verwirrt sah Stefanie in die besagte Richtung und griff nach dem Umschlag. Sie erkannte sofort, was es war, wurde plötzlich weiß im Gesicht und stöhnte verhalten auf. Sascha hatte kurz die Befürchtung, sie würde ohnmächtig werden. Aber im nächsten Moment drehte sie sich um und rannte fluchtartig aus dem Zimmer, dann schlug die Wohnungstür hinter ihr zu.
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Als Sascha nach jener Szene wieder allein in der Wohnung war, zehrte er noch immer an der Genugtuung dieser Revanche. Doch nachdem Stefanie am nächsten Tag mit ihrem Vater und ohne auch nur ein Wort mit Sascha zu wechseln ihre Sachen abgeholt und ihm den Schlüssel vor die Füße geworfen hatte, verlor sich seine Hochstimmung allmählich.
Unvermutet sank er zurück in die Einsamkeit, welcher er mit Stefanies Hilfe hatte entrinnen wollen. In seiner Erinnerung erlebte er immer wieder die Zeit seiner Beziehung mit ihr. Seine Gefühlspalette begann mit Depressionen, wenn er über den hoffnungsvollen Beginn ihrer Freundschaft nachdachte, und reichte bis hin zu trotziger Erbitterung nebst nun eher unwesentlicher Genugtuung, wenn er an den Ausgang ihrer kurzen Ehe dachte.
In dieser Phase nahm er sich vor, nie wieder jemandem sein Herz zu öffnen. Einst hatte Adrian ihn versklavt, als er ihn mit seinen eigenen, noch kindlichen Illusionen fesselte. Seine Eltern standen nie hinter ihm, seine Mutter ließ ihn aus Schwäche allein, sein Vater, weil er ihn verachtete und auch Marc hatte Sascha, wenn auch unfreiwillig, zurückgelas-sen. Jetzt war es Stefanie gewesen, die das Wissen um seine Wünsche und Träume gegen ihn einsetzte.
Obwohl er hätte erleichtert sein müssen, diesen unerfreulichen Abschnitt seines Lebens hinter sich zu haben, schaffte er es nicht, sich zu irgendetwas, was seine Zukunft betraf, aufzuraffen. Er hatte wieder einmal seine Träume begraben müssen und wieder einmal stand er vor dem emotionalen Nichts. Es war jetzt September, die noch ungewöhnlich heißen Tage vergingen für ihn als sei es nur ein Einziger. Er hatte mehr Zeit, als gut für ihn war. Er war jetzt arbeitslos, sein Schwiegervater schickte ihm die Papiere ohne Zeugnis zu. Und er hatte keine Freunde, nicht die geringste Abwechslung.
Wenn er einmal eine Stimme hörte, so kam sie aus dem Fernseher oder es war seine eigene, deren Klang die Wände zu ihm zurückwarfen. Er verließ seine Wohnung so gut wie nie während dieses ausklingenden Sommers, vergrub sich in seinen vier Wänden und in sich selbst.
Oft saß er stundenlang mit umschlungenen, bis unters Kinn gezogenen Knien auf der Fensterbank, beobachtete nur den Himmel und wünschte sich, dort mit den Wolken einfach fortziehen zu können.
Nur manchmal, wenn die Mauern ihn nicht mehr zu schützen vermochten, sondern erdrücken wollten, ging er hinaus. Er lief dann stundenlang, konzentrierte sich dabei auf einfache Dinge wie den alten Mann, der mit seinem Hund sprach, während er an Sascha vorbeiging oder das Mädchen, das laut weinend vor seinem heruntergefallenen Eis stand, welches nun langsam auf dem warmen Gehsteig verging. Für Sascha war diese Betrachtungsweise neu, nie hatte er auch nur einen einzigen Augenblick damit zugebracht, über solch banale Dinge nachzudenken. Nun kamen sie ihm plötzlich wesentlich vor.
Auch heute war er geflohen, weil seine Wohnung ihm plötzlich wie ein Kerker vorkam. Er fuhr nach Köln hinein, lief eine Weile ziellos durch die südliche Altstadt. Irgendwann stand er schließlich auf der Severinsbrücke und schaute in den Strom hinab, der sich unter ihm in tausend kleine Wellen und Strudel auflöste. Er glaubte, die Kraft des Wassers körperlich zu spüren, das die Brückenpfeiler umspülte und weiß aufschäumte. Er nahm diesen eigentümlichen, leicht modrigen Geruch des sommerlichen Flusses wahr, der ihn jetzt allerdings an eine Friedhofs-kapelle erinnerte.
Es war beinahe fünf Uhr am Nachmittag, die Sonne hatte bereits etwas von ihrer Kraft verloren, aber die Großstadtluft lag schwer auf seinen Lungen. Die Atmosphäre flimmerte über den Häusern, man konnte ahnen, dass Kölns Straßenschluchten die dumpfe Hitze des Tages noch in sich gefangen hielten.
Sascha vergaß den zähen Feierabendverkehr hinter sich, seine Gedanken schwammen mit dem träge fließenden Strom fort und verloren sich in der Ferne dieses Spätsommertages. Er fühlte sich angezogen von dem Wasser unter sich,
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