Sascha - Das Ende der Unschuld
aus einer anderen Dimension zu erforschen.
So lief er kreuz und quer durch die Innenstadt, um für ihn vollkommen zufällig wieder vor der Trinitatis Kirche zu stehen. Er dachte an den vorherigen Abend und setzte sich auf die Stufen. In diesem Moment war er sicher, dass er den ihm fremden Mann nicht ein zweites Mal einfach so stehen lassen würde. Aber genauso klar war ihm, dass er diesen nicht ein zweites Mal hier treffen würde.
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Claus David war vierundvierzig und man konnte nicht behaupten, dass er am Puls des Lebens saß. Er hatte bis vor einem halben Jahr das alte Herrenhaus in Marienburg gemeinsam mit seiner Mutter bewohnt. Nun war diese gestorben und hatte ihm das für ihn allein viel zu große Haus nebst dem Vermögen seines Vaters vererbt. Er brauchte das Kapital nicht, er besaß selbst fünf gut gehende Geschäfte, aber nach dem Motto, dass Geld zu Geld kommt, legte er es sehr gut an.
Er blieb in Marienburg, aber er fühlte sich einsam und in zwischenmenschlicher Hinsicht vollkommen ohne Bezugspunkte. Es war seine Mutter gewesen, die ihn gesellschaftlich unterbrachte, die seine Kontakte knüpfte. Er selbst war unbeholfen, wenn er sich außerhalb seiner Werbedesign-Betriebe behaupten sollte. Jetzt ging er jeden Tag zum Friedhof, brachte Blumen zum Grab und redete sich dort alles von der Seele, mit dem er nicht klarzukommen glaubte. Durch das Zusammenleben in den vierundvierzig Jahren, das einschließlich der gemeinsamen Urlaube bis ins kleinste Detail durch die Mutter organisiert wurde, wurde Claus’ Charakter geprägt. Infolgedessen glaubte Claus, hier am Grab tatsächlich die Antworten zu bekommen, die er benötigte.
Dabei konnte dem attraktiven Geschäftsmann, der oftmals mit harten Bandagen kämpfte, niemand ansehen, dass er im privaten Bereich introvertiert, fast menschenscheu war. Er hatte die Geschäftsführer der vier Filialen und die siebzehn Designer der Hauptgeschäftsstelle zu jeder Zeit unter Kontrolle, verstand es, mit Kunden zu verhandeln und durch seinen intensiven Charme auch die wankelmütigste Klientel zu überzeugen. Am liebsten hätte er alles allein gemacht, aber das war durch die Größe seiner Unternehmen unmöglich, deshalb beschränkte er sich auf die Beaufsichtigung seiner Angestellten. Ehe eine wichtige Präsentation rausging, musste sie über seinen Tisch. Etwas was die Mitarbeiter des Stammhauses nicht selten nervte. Abends ging Claus mit Kunden essen, veranstaltete den einen oder anderen geschäftlichen Empfang oder saß auch in der Nacht über Entwürfen, bis er glaubte, sie endlich in seinem Sinne verbessert zu haben. Außerhalb dieses gleichförmigen Lebens verbrachte er viel Zeit in seiner gut ausgestatteten Bibliothek, hörte stundenlang exquisite klassische Musik bei einem guten Cognac und ging zur Zerstreuung ins Konzert oder Theater. Bei all diesen Aktivitäten vermisste er seine Mutter. Schon früh hatte er bemerkt, dass ihn sexuell nichts zu Frauen hinzog und dies war in erster Linie etwas, das seine Mutter begrüßte. Als er jedoch damals, er war noch sehr jung, versuchte ihr zu sagen, dass er ein ungewöhnliches Interesse an Männern entwickelte, hatte sie ihn gar nicht erst aussprechen lassen. In Folge sprach sie von Sünde und der Bibel, von Rechtmäßigkeit und Disziplinlosigkeit, und der brave Sohn verinnerlichte ihre Worte tagtäglich etwas mehr. So war Claus in den letzten dreißig Jahren stets hin-und hergerissen zwischen seinen konventionellen religiösen Empfindungen und seiner selten ausgelebten Sexualität.
Nach seinen ersten Intimitäten mit einem Jungen damals im Internat und seinen scheuen Versuchen, seiner Mutter davon zu berichten, hatte er nur noch sich hier und da bietende Gelegenheiten genutzt. Später dann war es manchmal vorgekommen, dass er losging, um sich immer dann einen Stricher zu suchen, wenn das Verlangen ihn zu sehr belastete.
Aber das geschah so selten, dass er einen ganz bestimmten Mechanismus entwickeln konnte, der ihm das Verarbeiten dieses für ihn verdammenswerten Frevels leichter machte. In sein Bewusstsein ließ er nur den absoluten Glauben an Gott und die Worte der Bibel dringen. Dies war neben seiner Mutter der einzig feststehende Bestandteil seines Lebens. Darüber hinaus gab es als Gegengewicht nur seine Arbeit.
Nun hatte Claus am gestrigen verregneten Abend nach einer Besorgung nach Feierabend Sascha gegenüber gestanden. Er war selbst in einer sehr niedergeschlagenen Gemütsverfassung und glaubte sein Innerstes
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