Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi
abgestreift und stand auf. Nach der Pause musste sie noch zu einer kurzen Sitzung der AG KVK, um das Protokoll zu schreiben. Darauf freute sie sich, denn da würde sie Valerie treffen, die als Expertin in dieser Arbeitsgruppe saß; Valerie und sie waren seit Schulzeiten miteinander befreundet. Es gab im Kaspar-Escher-Haus für die Mitarbeitenden der Parlamentsdienste keinen eigentlichen Pausenraum, nur eine winzige, düstere Teeküche, an deren Tür die Farbe abblätterte, und auf dem Flur zwischen den Büros standen ein paar Tischchen und ein Getränkeautomat. DDR hatten sie dieses Gebiet getauft, bis vor einiger Zeit eine futuristisch aussehende Raucherkabine installiert worden war. Nun passte dieser Name nicht mehr ganz. Sie fanden sich bei der Teeküche zusammen, Carlo Freuler, der zweite Protokollführer, Mario Bianchera, der Kommissionssekretär der Parlamentsdienste, der Sitzungen organisierte und Berichte für die Kommissionen schrieb, und Raffaela Zweifel, die erst seit zwei Monaten da war. Sie ersetzte im Rahmen eines Beschäftigungsprogramms für Arbeitslose des RAV die ständige Administrativsekretärin, die einen unbezahlten Urlaub genommen hatte, um in England einen Sprachkurs zu besuchen. Die junge Frau hatte es nicht ganz einfach im Sekretariat. Die anderen wunderten sich, warum Angela Legler, die Präsidentin der Verkehrs- und Umweltkommission und Ratslektorin und deshalb häufig auf dem Sekretariat anzutreffen war, so unfreundlich mit ihr umging. Lina, die es wusste, sagte nichts. Legler war ohnehin nicht die Herzlichkeit in Person, sondern eher der raubeinige Typ, aber Raffaela wurde von ihr regelrecht schikaniert. Gut, sie war kein Mäuschen, wusste sich schon zu wehren und konnte Legler recht spöttisch anblicken, aber oft sagte sie nichts, wenn diese an ihrer Arbeit herumkrittelte. Sie konnte nicht das Risiko eingehen, rausgeworfen zu werden, denn das hätte ihr bei der weiteren Stellensuche geschadet.
Carlo hatte ein Protokoll einer Sitzung der Verkehrskommission, die über Mittag stattgefunden hatte, in Arbeit.
»Die Noser hat ja keine Ahnung«, regte er sich auf. »Hat einen ellenlangen Antrag vorgetragen und nicht gemerkt, dass sie da etwas verwechselt hatte und er überhaupt nicht zum Thema passte. Was soll ich damit jetzt machen?«
»Einfach streichen«, meinte Lina friedlich und nahm einen Schluck Tee.
Aber Carlo hörte ihr gar nicht zu. »Und die Legler ist ja komplett unfähig, eine Sitzung zu leiten«, schimpfte er weiter, »keine Ahnung, wie man eine Diskussion strukturiert.«
Lina sagte nichts, Raffaela kräuselte spöttisch die Lippen.
»Also komm, die ist doch mit den Nerven runter wegen der Geschichte vom Samstag«, verteidigte sie nun Mario. »Da wäre jeder etwas mitgenommen.«
Mario Bianchera war ein liebenswürdiger Mensch, der sich nie über andere das Maul zerriss. Er war Mitte 30, dunkelhaarig, etwas rundlich, von Beruf Politologe und Historiker. Seit seiner Scheidung vor zwei Jahren, die ihm arg zugesetzt hatte, lebte er allein. Seine achtjährige Tochter sah er am Wochenende. Er war ein Familienmensch und hatte Mühe gehabt, sich an diese Situation zu gewöhnen. Nachdem er längere Zeit melancholisch und still gewesen war, war er seit einigen Monaten wieder fröhlicher, momentweise fast übermütig. Ab und zu bekam er ein SMS, das, seiner Reaktion nach zu schließen, nicht von seiner Tochter stammte. Er liebte sie zwar zärtlich, aber das verträumte Lächeln deutete auf etwas anderes hin. Lina hatte sich gefragt, ob er wieder verliebt war. Sie hätte es ihm gönnen mögen. Hoffentlich ist es eine Frau, die zu ihm passt, hatte sie gedacht. Denn so umgänglich und friedfertig Mario war, hatte er doch auch seine Ecken und Kanten. Er hatte eine fast strenge Liebe zur Wahrheit. Notlügen oder Lügen aus Höflichkeit, mit deren Hilfe sich ja die meisten Menschen durch ihr Sozialleben hangelten, kamen für ihn nicht infrage. Wenn er einen Fehler gemacht hatte, stand er dazu, und wenn er Kritik anzubringen hatte, tat er es, zwar sacht, aber klar, auch wenn es sich um den Ratspräsidenten oder ein Regierungsmitglied handelte. Auch seine kleine Tochter erzog er zur Ehrlichkeit. Lina hatte ihr einmal einen Lebkuchen geschenkt. Die Kleine hatte sich bedankt und dann hinzugefügt: »Es ist schade, dass ich Lebkuchen nicht so gern esse.« Das hatte sie in einer Mischung aus Ernsthaftigkeit und Charme gesagt, sodass Lina ganz beeindruckt gewesen war. Mario war allgemein beliebt,
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