Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi
Flohmarkt jemanden bemerkt, der den Stein geworfen haben könnte? Haben Sie jemanden in einem bunten Pullover gesehen?«
»Jeder aus dieser unerzogenen Bande könnte mich angegriffen haben«, fuhr Legler auf. Wirklich weiterhelfen konnte sie nicht.
»Haben Sie Angst? Fühlen Sie sich persönlich bedroht?«, fragte er.
»Ich lasse mich nicht einschüchtern«, erklärte Legler stolz. »Ich habe einen Wählerauftrag.«
»Bei der Flohmarktschließung haben Sie aber vor allem Unterstützung von der SVP, nicht von Ihrer Partei«, konnte sich Streiff nicht verkneifen anzumerken.
»Das geht Sie gar nichts an«, klemmte sie ihn ab. »Sorgen Sie dafür, dass man sich in dieser Stadt frei bewegen kann, ohne zusammengeschlagen zu werden.« Sie wandte sich ab.
»Zu Befehl«, murmelte Streiff.
Die Pause ging dem Ende zu. Die Parlamentarier kamen grüppchenweise aus der Kaffeepause zurück. Ein großer massiger Mann mit Bürstenschnitt ging auf Angela Legler zu. »Na, geht es besser, Kiwi?«, fragte er.
Kiwi? Streiff wunderte sich.
»Sicher, so schnell lasse ich mich nicht unterkriegen«, hörte Streiff sie antworten. Offenbar fand sie es völlig in Ordnung, Kiwi genannt zu werden.
Lina Kováts setzte den Kopfhörer auf und drückte auf die Playtaste. Die Kantonsratssitzung war zu Ende, sie hatte von der Tonaufnahme der Sitzung noch im Rathaus eine CD gebrannt und ging nun in ihrem Büro im Kaspar-Escher-Haus daran, das Protokoll zu schreiben. Nach einleitenden Worten der Präsidentin, der Ansage, welches Geschäft behandelt wurde, war der erste Redner dran, der sich zur Steuersenkung äußerte. Lina hörte Heinrich Leuzinger, einen SVP-Vertreter: »Das Rezept der Linken, mit dem man die finanzielle Situation des Kantons beheben soll, lautet, sie zu erhöhen.« Lina brauchte nicht lange für die Korrektur, sie schrieb: Das Rezept der Linken, mit dem sie die finanzielle Situation des Kantons verbessern wollen, lautet, die Steuern zu erhöhen. Sie konnte sich noch daran erinnern, dass er den Satz gesagt hatte. Manchmal kam sie sich bei ihrer Arbeit vor wie in einer Art Zeitschleife. Das erste Mal erlebte sie die Situation live, in Echtzeit, mit Bild und Ton, das zweite Mal auf den Ton reduziert, der aus dem Kopfhörer in ihren Kopf strömte, und das dritte Mal in abstrahierter Form, als Text auf dem Bildschirm oder als Papierausdruck. Jedes Mal war sie ein Stück weiter davon entfernt. Aber innerlich konnte sie sich die Stimmen der Ratsmitglieder auch noch vergegenwärtigen, wenn sie den redigierten Text auf Papier Korrektur las. Es war, als könnte sie die Sprechenden in einem bestimmten Moment in ihrer Vergangenheit festhalten, obwohl diese in ihrer Gegenwart schon ganz woanders waren und nicht ahnten, dass sie auf Linas CD gefangen waren in einem ewigen Montagmorgen.
Sie korrigierte die Unvollkommenheit des gesprochenen Wortes. Druckreif reden – darüber konnte sie nur lächeln. Das hatte sie nur ein einziges Mal erlebt. Das Normale waren, auch bei Rednern, die gut rüberkamen und sich verständlich ausdrückten, angefangene Sätze, die syntaktisch im Nirgendwo endeten, Kaskaden von verschachtelten Nebensätzen, die abrupt geschnitten wurden von einer ganz anderen Konstruktion, Präpositionen, die ihr Verb im Stich ließen, Verben, die sich davongemacht hatten, als Nominative verkleidete Akkusativobjekte, falsche Bezüge, hinkende Vergleiche, Aussagen, die sich verzweifelt durch eine aus dem Ruder laufende Grammatik kämpften. Lina liebte das. Sie ging mit einer Mischung aus kühlem Sachverstand und Fürsorglichkeit ans Werk, verbesserte Verbformen und Fallfehler, glättete behutsam Holprigkeiten, strukturierte endlos lange Sätze, rückte ein schiefes Sprachbild gerade, fügte ein fehlendes ›nicht‹ ein, strich Füllwörter oder fügte eines ein, um eine akustische Betonung, die im Schriftlichen nicht direkt abzubilden war, nachzuvollziehen, stellte Satzteile um, um den Satz flüssiger zu machen. »Es gibt Überflüssiges, das nicht immer seinem Zweck zugeführt wird«, hörte sie aus dem Kopfhörer. Solche seltenen sprachlichen Kostbarkeiten gefielen ihr besonders. Unbeabsichtigte Paradoxa, die in der Debatte untergingen, aber bei ihr zum Vorschein kamen und die nur sie zu würdigen wusste. Was sie daraus machen sollte? Vielleicht würde sie es stehen lassen, einfach, weil sie es schön fand.
Aber jetzt war es 15.30 Uhr. Kaffeepause, ihr Arbeitskollege Carlo Freuler hatte seinen Kopfhörer bereits
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