Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi
noch an.
»Als wir am Mordabend über die Sihlbrücke gingen, kam uns Freuler entgegen. Du hast ihn nicht gesehen, weil du auf die andere Seite geschaut hast. Wenn ich nicht gesichtsblind wäre, hätte ich ihn bei der Befragung wiedererkannt und gewusst, dass er log, als er erklärte, er habe den Abend zu Hause verbracht. Die ganze Zeit während der Ermittlungen hatte ich das Gefühl, irgendetwas übersehen zu haben, einen Hinweis nicht aufgenommen zu haben. Aber ich kam nicht darauf, was es war. Erst als du vor drei Tagen an der gleichen Stelle den gleichen Mann gegrüßt hast, ging mir plötzlich auf, dass es das gewesen war. Plötzlich sah ich die Gesichter vor mir: das des Mannes am Mordabend, das von Freuler und das des Mannes, den du grüßtest. Und die drei Gesichter waren identisch. Es war immer derselbe Mann.«
»Prosopagnosie?«, wiederholte Valerie.
»Es weiß kein Mensch, dass ich das habe. Ich habe bei der Arbeit meine Strategien, um es zu kompensieren«, rettete sich Beat in einen Fachjargon. »Aber in einer solchen Situation wie dort klappt das nicht, weil ich nicht darauf gefasst bin, mir etwas Wichtiges einprägen zu müssen.«
Valerie verdaute das schweigend. Das trug er also mit sich herum, der erfolgreiche Kriminalbeamte Beat Streiff. Eine kleine Schwäche, eine winzige Behinderung, die ihm jederzeit eine Falle stellen konnte. Und er war natürlich zu stolz, sie einzugestehen. Schlug sich durch mit doppelter Wachsamkeit, erhöhter Aufmerksamkeit, mit Tricks und Eselsbrücken.
»Bist du deshalb so zurückhaltend Lina gegenüber?«, fragte sie. »Weil sie immer wieder anders aussieht?«
Er nickte, dankbar, dass sie erfasst hatte, worum es ging. »Ja, die wechselnden Haarfarben und Frisuren und Kleiderstile, da habe ich null Chance.« Er grinste ein wenig.
»Warum hast du es mir jetzt gesagt?«, fragte sie.
»Weil ich es dir schuldig bin«, gab er zur Antwort, »und weil ich dir vertraue.«
Valerie ließ sich nicht anmerken, wie sehr seine Antwort sie berührte. Plötzlich kam ihr der Traum wieder in den Sinn, an den sie sich beim Frühstück vor zwei Wochen kurz erinnert hatte. Sie hatte die Werkzeuge in ihrer Werkstatt nicht mehr voneinander unterscheiden können. Nach einer Schrecksekunde qualvoller Verwirrung hatte sie einfach nach einem gegriffen und streng Alban gefragt: »Wofür braucht man das?«, und er hatte es erläutert, ohne zu merken, dass es kein Test gewesen war. In diesem Moment hatte sie alles wieder gewusst und gedacht: Man muss sich nur durchtricksen können.
Sie erzählte Beat den Traum. Er nickte nur. Sie fragte: »Was hast du jetzt vor? Willst du es nicht wenigstens Zita Elmer sagen und den anderen, mit denen du eng zusammenarbeitest?«
Seine Antwort war dezidiert: »Keinesfalls.«
Man muss sich durchtricksen können, dachte sie. Vielleicht ist das in manchen Situationen das Richtige.
Seppli kam herangerannt, einen langen Ast quer im Maul, mit dem er Kinderwagen und stolpernde Zweijährige in Gefahr brachte. Valerie nahm ihn ihm weg und warf ihm dafür einen Keks hin, den er in Sekundenschnelle hinuntergeschlungen hatte. Sie überquerten die Limmat und gingen weiter in Richtung Bernoullihäuser und Werdinsel.
E N D E
Dank
Danke, Christian, für die sorgfältige Lektüre des Textes und die anregende Kritik.
Glossar
117 Polizeinotrufnummer
Chalet hölzernes Wohnhaus in den
Bergen
Chapeau Hut ab
Echo der Zeit Informationssendung am
Schweizer Radio
Elfer Tram Nr. 11
ETH Eidgenössische Technische
Hochschule
Hindelbank Frauengefängnis der Schweiz
Kantonsrat Legislative des Kantons
Konfitüre Marmelade
Legislatur Vierjährige Periode zwischen
zwei Parlamentswahlen
Nussgipfel Blätterteiggebäck mit Nüssen;
Nusskipferl
Pouletfleisch Hähnchen
Prosopagnosie Unfähigkeit, Gesichter zu
erkennen
PUK Parlamentarische Untersu-
chungskommission
Randen Rote Beete
RAV Regionales Arbeitsvermitt-
lungszentrum
Regierungsrat Exekutive des Kantons
Rote Fabrik Kulturzentrum in Zürich
Sprüngli Café in Zürich
Surprise Arbeitslosenzeitung, die auf der
Strasse verkauft wird
Tausendernote 1000-Franken-Schein
Triemli Spital in Zürich
Tschuldigung Entschuldigung
Vierzehner Tram Nr. 14
Züritipp Veranstaltungsmagazin
Zitat Seite 47 Grammatik der Moral. Von Roland Gysin. In: Unimagazin 3/2009. Zürich
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