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Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi

Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi

Titel: Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Morf
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aber, mutmaßte Lina, in einer Beziehung mochte Marios Hang zu Offenheit und Gerechtigkeit vielleicht manchmal auch anstrengend sein. Jeder war doch darauf angewiesen, dass man einmal fünf gerade sein ließ, dass man etwas ein bisschen zurechtbog, verschwieg oder im Unklaren beließ. Jedenfalls hatte Mario durchaus Verständnis für menschliche Schwächen und war der Einzige, der Angela Legler in Schutz nahm.
    Carlo zuckte die Schultern. »Dann soll sie sich krankschreiben lassen. Wäre eh eine Wohltat für alle«, brummte er.
    Es war nichts Neues, dass Carlo in Rage geriet. Nicht nur wegen Angela Legler, aber wegen ihr besonders. Er hasste seine Arbeit, und mit Legler war er in einen zähen Kleinkrieg verwickelt, in dem beide einander nichts schenkten. Legler war Ratslektorin, was bedeutete, dass sie es war, die das fertige Ratsprotokoll nochmals las und letzte Korrekturen anbrachte, die Lina oder Carlo dann ausführen mussten. In dieser Funktion, das war auch Lina klar, war sie eine Fehlbesetzung. Sie hatte kein Sprachgefühl, keine soliden Grammatikkenntnisse, dafür ein großes Durcheinander mit der neuen Rechtschreibung im Kopf. Das hatten Carlo und Lina zwar nach dem Hin und Her der letzten Jahre mittlerweile ebenfalls, aber im Unterschied zu Madame Legler waren sie nicht zu stolz, in Zweifelsfällen den Duden zu konsultieren. Die Politikerin war rechthaberisch und stur und da man kein fehlerhaftes Ratsprotokoll im Internet wollte, war es immer wieder eine heikle diplomatische Mission, sich einvernehmlich auf die richtige Lösung zu einigen. Eine Mission, die immer öfter Lina übernehmen musste. Denn von Carlo Freuler ließ sich Angela Legler gar nichts sagen. Das, zusammen mit deren Falschkorrekturen, trieb Carlo zur Weißglut. Lina nahm das Ganze nicht so persönlich und sie wurde nicht ganz so von oben herab behandelt, aber angenehm war der Job auch für sie nicht.
    Lina und Carlo hatten einmal Esther Jenny, die Leiterin der Parlamentsdienste, um Vermittlung gebeten. Aber sie, kurz vor der Pensionierung stehend, hatte keine Lust gehabt, sich in fremde Händel einzumischen.
    »Der Geschäftsleitung einen Antrag stellen, Frau Legler als Ratslektorin abzusetzen?«, hatte sie entsetzt gerufen. »Kinder« – Carlo war 55 und Lina immerhin 48 – »nein, das können wir unmöglich machen. Dafür sind wir überhaupt nicht zuständig. Seid einfach höflich zu ihr und zeigt ihr, was im Duden steht.«
    Also schlugen sich Carlo und Lina irgendwie durch.
    Carlo trank seine Ovomaltine aus und wandte sich an Lina: »Du gehst doch nachher noch auf diese Sitzung der AG KVK.«
    Lina wusste, was kommen würde.
    »Könntest du nicht diesen Protokollauszug da mitnehmen und Legler vorlegen? Sie sagt hier oben auf der Seite das Gegenteil von dem, was sie hier unten behauptet. Kannst du das mit ihr klären?«
    »Okay, mach ich.«
    Insgeheim hielt Lina auch Carlo für eine Fehlbesetzung in diesem Job und fragte sich, warum er ihn nicht einfach aufgab. Seine Frau war eine Zahnärztin mit einer gut laufenden Praxis. Sie verdiente sicher genug für die ganze Familie. Carlo, der Philosophie studiert hatte, war eigentlich Schriftsteller. Er schrieb seit Jahren an einem Roman, der immer dicker, aber nie fertig wurde. Er wäre sicher glücklicher, dachte Lina, wenn er den ganzen Tag unbehelligt in seiner Klause sitzen und schreiben könnte. Die Arbeit im Kantonsrat betrachtete er als eine Zumutung, als eine ständige Beleidigung seiner Fähigkeiten. Es machte ihm keine Freude, abgestürzte Sätze zu retten, aus einem unbeholfenen Sprachgebilde etwas Schönes zu machen, aus unzusammenhängenden Sprachfetzen einen Sinn herauszuschälen. Er verachtete die Ratsmitglieder, die er allesamt für strohdumm hielt. Es kränkte ihn tief, hierarchisch unter ihnen zu stehen und für sie eine Dienstleistung erbringen zu müssen, die sie nicht einmal zu würdigen wussten.
    Aber vielleicht brauchte es Carlo für sein Selbstwertgefühl, auch etwas zum Familienunterhalt beizutragen. Jedenfalls sprach Lina nie mit ihm darüber, es ging sie ja nichts an. Sie packte ihre Sitzungsunterlagen und den Protokollauszug von Carlo in eine Kartonmappe, klemmte sich den Laptop unter den Arm und machte sich auf den Weg zum Sitzungszimmer.
     
    Es ging gegen 17.30 Uhr. Die Luft im Sitzungszimmer war verbraucht. Angela Legler, die als Präsidentin der AG KVK oben am Tisch saß, sah sich um.
    »Noch Wortmeldungen?«
    Niemand sagte etwas.
    »Dann sind die Meinungen also

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