Satzfetzen: Kriminalroman: Ein Zürich-Krimi
gehörte zu diesen. Es war, fand Lina, entschieden der härtere Job, als kämpferisch Extremforderungen zu stellen und sich um ihre Realisierbarkeit zu foutieren.
»Darüber sollten wir nochmals reden, Angela«, hörte Lina sie noch sagen, bevor sie ging. Draußen wartete Valerie auf sie.
»Was war denn mit der los?«, fragte Lina. »Weißt du, warum sie plötzlich umgeschwenkt ist? Ihre Fraktion wird keine Freude haben daran.«
Valerie schüttelte den Kopf. »An der letzten Sitzung vor drei Wochen sah es noch ganz anders aus. Vielleicht rächt sie sich damit für die Demütigung vom Samstag.«
»Das wäre dumm«, stellte Lina fest.
»Ja, aber vielleicht verlockend«, meinte Valerie. »Gehst du auch nach Hause?«
Valerie und Lina wohnten nicht weit voneinander entfernt.
»Nein, heute arbeite ich länger. Ich will mit dem Ratsprotokoll ein gutes Stück vorwärtskommen, weil ich ja noch dieses Sitzungsprotokoll schreiben muss. Carlo kann mir nichts abnehmen, der verliert ständig so viel Zeit damit, sich zu ärgern, dass er kaum vom Fleck kommt.«
Lina sah auf die Uhr. Fast 21 Uhr. Alle anderen waren längst gegangen. Fertig für heute, dachte sie, schloss das Dokument, beendete das Programm und stellte den Computer ab. Ob ich noch auf einen Sprung bei Valerie vorbeigehe? Oder ich könnte Hannes anrufen. Ach ja, ich sollte noch Carlo den korrigierten Protokollauszug hinlegen, der kommt morgen wahrscheinlich früher als ich. Sie öffnete ihre Kartonmappe. Eine Sekunde setzte ihr Denken aus. Verdammt! Was war denn das? Wie kam das hier hinein? Und wo war der Protokollauszug? Scheiße, das war überhaupt nicht ihre Mappe. Das war, das musste – Angela Leglers Mappe sein. Aber wieso lagen in Angela Leglers Kartonmappe sieben Tausendernoten? Trug sie ihr Haushaltsbudget mit sich herum? Kaum. Da war noch ein Zettel dabei, handgeschrieben: »Danke für dein Entgegenkommen. P.« Die Schrift kam ihr vage bekannt vor. Was für ein Entgegenkommen? Waren die 7000 Franken eine Belohnung für irgendein Entgegenkommen? Ging es hier um Bestechung? Um Erpressung? Oder einfach um eine Privatsache, die Lina nichts anging? Wer war P? Vielleicht war es gar nicht Leglers Mappe. Lina erinnerte sich an das Durcheinander an Leglers Platz nach der Sitzung. P. Spälti, der Raumplanungsexperte, hieß Peter. Hatte er Angela Legler 7000 Franken rübergeschoben? Das machte keinen Sinn. Aber niemand sonst in der Kommission hatte einen Namen mit P. Legler konnte die Mappe natürlich schon mit an die Sitzung gebracht haben. Was sollte sie jetzt tun? Esther Jenny anrufen? Nein, die saß wahrscheinlich in der Oper oder im Theater. Und sie könnte ja auch nichts machen. Angela Legler anrufen? Unmöglich. Das könnte ziemlich peinlich sein: Ach, Frau Legler, ich habe da 7000 Franken gefunden. Gehören die zufällig Ihnen? Überhaupt, jetzt war es schon gegen 21.30 Uhr. Diese komische Sache musste warten bis morgen. Plötzlich fühlte sich Lina nicht mehr wohl im Büro. Es war niemand mehr da. Aber irgendjemandem gehörte diese Mappe. Und dieser Jemand wollte sie bestimmt zurückhaben. War die Person schon auf den Gedanken gekommen, dass sie sich bei ihr befand? Lina schloss die Mappe mitsamt Inhalt in ihrer Pultschublade ein. Auf dem Heimweg würde sie Valerie anrufen. Sie schlüpfte in ihre Jacke und hängte sich die Tasche über die Schulter.
Lina wollte zu Fuß gehen. Ein bisschen Bewegung und frische Luft würden ihr nach dem langen Tag guttun. Und sie wollte nachdenken. Sie ging das Limmatquai hinunter, blieb ab und zu vor einem Schaufenster stehen. Dann überquerte sie die Rathausbrücke und bog in eine der Altstadtgassen ein, die zum Paradeplatz führten. Auch hier jede Menge Kleiderboutiquen, aber in der obersten Preisklasse. Es wäre Lina nie in den Sinn gekommen, ein solches Geschäft zu betreten, aber sie schaute sich ganz gern an, was ausgestellt war. Dann kombinierte sie Fundstücke aus Secondhand-Läden mit günstigen Warenhausteilen und brachte es fertig, ebenso top auszusehen wie die Frauen in den teuren Sachen, aber zu einem Zehntel des Preises. Heute waren ihre Gedanken woanders. Sie musste morgen im Verzeichnis der Ratsmitglieder nachschauen, wie viele Namen mit P. begannen. Purtscher, Piller, Pfammatter. Pius, Priska, Philipp. Sie wollte die Mappe zu Jenny bringen. Die würde sich freuen. Sie hatte es am liebsten, wenn alles ruhig und geordnet vor sich ging, ohne dass sie irgendwie eingreifen musste. Für Leute, die
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