Saubere Verhältnisse
über ihre Reaktion. Es war schließlich nur ein Mantel. Aber wie er so auf dem Bügel hing, leicht schaukelnd, nachdem die Frau die Plastikhülle hochgezogen hatte, die Ärmel an den Ellbogen etwas gebeugt und das Vorderteil über der Brust ein kleines bißchen ausgebeult, hatte Yvonne einen Moment lang das Gefühl, daß sie einen Menschen sah und nicht ein leeres Kleidungsstück. Sie hatte den Eindruck, daß der Körper einen deutlichen Abdruck im Mantel hinterlassen hatte, fast so deutlich wie ein Gipsabdruck.
Ihr wurde bewußt, daß die Polizistin ihr Gesicht beobachtete.
»Kennen Sie diesen Mantel?«
»Nein«, sagte Yvonne mit Nachdruck.
So mußte ein Schmetterling sich fühlen, wenn er sich umdreht und seine leere Puppe sieht, dachte sie. War dieses graue, zerknitterte Ding wirklich ich?
Die Frau zog die Plastikhülle wieder über den Mantel und legte ihn über einen Stuhl.
»Na also. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Es hat doch nicht lange gedauert, oder? Ich werde jemanden bitten, Sie zurückzufahren.«
»Ja, es ging schnell. In was für einem Verbrechen ermitteln Sie eigentlich?« fragte Yvonne leichthin, als sie zusammen durch den Korridor gingen.
»Einem Mord.«
Yvonne zögerte. Sie wollte es wissen.
»Der Mörder … ich meine der Verdächtige … hat er sich selbst gestellt und gestanden?«
»Nein.«
»Hat ihn jemand angezeigt?«
»Nein.«
»Aber woher wissen Sie denn, daß Sie die richtige Person haben?«
Sie versuchte so zu klingen, als sei sie ganz normal neugierig, aber sie hörte selbst, wie schrill ihre Stimme klang.
»Er hat gestanden«, sagte die Polizistin ruhig. »Die Indizien gegen ihn sind stark. Und seit er gestanden hat, ist er sehr gesprächig und hilfsbereit.«
»Die Indizien«, wiederholte Yvonne verwirrt. »Meinen Sie Haare und DNA und so Sachen? Aber ist das nicht sehr schwer, bei einem so lange zurückliegenden Mord?«
»Lange zurückliegend?« Die Polizistin schaute sie erstaunt an. »Was meinen Sie damit? Der Mord wurde vor drei Tagen begangen.«
28
Den Rest des Tages hatte sie in einer Art Nebel verbracht. Zerstreut und abwesend hatte sie in einer Besprechung mit Cilla und zwei Kunden gesessen, und während des Arbeitsessens mit dem Direktor eines großen Weiterbildungsunternehmens hatte sie hauptsächlich gekaut und geschwiegen und ihn die Konversation führen lassen. Nach drei hatte sie keine Termine mehr und ging deshalb nach Hause, ehe sie noch mehr Schaden für die Firma anrichtete.
Als die Regionalnachrichten kamen, machte sie den Fernseher an. Es war gleich die erste Nachricht. Die Kamera machte einen Schwenk über den Vorort. Beim Anblick der wohlbekannten Fassaden, in lauschiges Grün gebettet, spürte sie ein merkwürdiges Ziehen in der Magengrube, wie wenn man zuviel von einer Delikatesse gegessen hat.
Die Stimme der Sprecherin: »Hier in diesem idyllischen Vorort …« Und kurz darauf: das Haus! Orchideenweg 9, mit den hohen, schmalen Giebeln und dem Efeu, dem tiefgezogenen, gleichsam beschützenden Satteldach. Die Eingangstreppe, die sie so oft gefegt (und sogar gescheuert hat, weil Bernhard das Moos entfernt haben wollte). Das Gartentor, das sie oft geöffnet und geschlossen hatte. Der verwahrloste Garten, den man nur ahnen konnte. Und drum herum: das blauweiße Absperrungsband, wie eine Schleife um ein riesiges Geschenk.
Die Nachrichtensprecherin berichtete, was geschehen war:
Die Bewohnerin – die eine Gefängnisstrafe verbüßte – hatte übers Wochenende den Hafturlaub zu Hause verbracht. Als sie am Sonntag abend nicht wieder ins Gefängnis zurückkehrte, wurde sie zur Fahndung ausgeschrieben. Die Polizei suchte den Ehemann auf, und der sagte aus, er habe sie am Sonntag vormittag zur Bahn gefahren. Spuren im Haus machten die Polizei jedoch mißtrauisch, und der Leichnam der Frau, der zahlreiche Stichwunden aufwies, wurde später unter dem Kies eines sogenannten japanischen Steingartens gefunden. Der Mann wurde verhaftet und hat die Tat gestanden.
»Schrecklich«, sagte Vivianne vor ihrem lila Haus, während Hasse versuchte, den kläffenden Zwergspaniel zum Schweigen zu bringen. Sie beugte sich zum Fernsehreporter vor, hob die Augenbrauen und sagte mit geschlossenen, bebenden Lidern, als wolle sie die fremde, blutige Szene ausblenden: »Hier!«
Als Yvonne Simon gute Nacht gesagt hatte, sagte sie ihm, daß sie noch einmal weggehen würde und er sich keine Sorgen machen solle, wenn er nachts aufwachte und niemand da wäre. Es kam öfter vor,
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