Saubere Verhältnisse
Sie plusterten sich auf und zwitscherten, solange die Besitzer in der Nähe waren. Das ist ein Überlebensinstinkt, weil ein kranker Vogel riskiert, von den anderen Vögeln totgehackt zu werden. Will man wissen, wie es dem Wellensittich oder Papagei wirklich geht, muß man ihn heimlich beobachten.
Genauso war es mit der Mutter. Sich schwach oder krank zu zeigen war lebensgefährlich, das hatte sie von Kindheit an gelernt. Munter und fröhlich mußte man sein, mit rosigen Wangen, sonst würde man unweigerlich von den anderen totgehackt. Ihr angelerntes »gesundes« Verhalten saß ihr in den Knochen, und wenn es gebraucht wurde, drückte sie einfach auf einen Knopf, und dann kamen die Phrasen und Gesten.
Sie wirkte trotzdem nicht ganz normal. Sie sprach mechanisch, lachte zu laut, zog sich komisch an. Aber sie konnte als etwas merkwürdige, unkonventionelle Person durchgehen.
Wenn es ihr richtig schlechtging, konnte sie diese Fassade nicht aufbauen. Da verließ sie die Wohnung nicht und ließ keinen Außenstehenden herein. Ihre Tochter betrachtete sie in diesen Perioden als Requisit ihrer Halluzinationen. Yvonne gehörte zur Schwangerschaft und zur Geburt. Irgendwie war die Tochter immer noch ein Embryo, ein ekliger, widerwärtiger Teil ihres Körpers.
Am schlimmsten war es für Yvonne, wenn die Mutter Angst vor ihr hatte. Ihre Angst war zehnmal schlimmer als ihr Zorn. Aus nachvollziehbaren Gründen hatte Yvonne oft Alpträume, und eines Nachts, als sie aus einem aufwachte, tappte sie zur Mutter und kroch zu ihr ins Bett, um sich trösten zu lassen. Die Mutter erwachte mit einem Schrei und trat nach ihr und kratzte. Aus den entsetzt hervorgekeuchten Sätzen verstand Yvonne, daß die Mutter in ihr eine große Krabbe sah, die in ihr Bett gekrochen war und sich an sie geklammert hatte. Yvonnes eigener Alptraum verblaßte angesichts dieser schrecklichen Begegnung, aus der man nicht einmal aufwachen konnte.
Ihr Essen mußte sie meistens selbst machen. Sie lernte durch Versuch und Irrtum. Sie lernte, Konservendosen aufzumachen und den Gasherd anzuzünden. Es gab im Fernsehen noch nicht so viele Kochsendungen wie heute, aber sie merkte sich, was sie sah.
In der Schule wurde sie natürlich gemobbt. Ihre Kleider waren komisch. Die Mutter kaufte sie in einem Kurzwarengeschäft in der Nähe. Die Verkäuferin war alt und senil, ihre Kunden waren ebenfalls alte und senile Damen. In irgendwelchen Verstecken hatte sie ein unerschöpfliches Lager an rosa gerüschten Mädchenkleidern, die vielleicht ein Traum waren für eine Vierjährige im Prinzessinnenalter, aber immer unmöglicher aussahen, je älter Yvonne wurde. Besonders weil die größten Modelle für Siebenjährige gedacht waren und Yvonne sie tragen mußte, bis sie zwölf war und die Nähte platzten.
Die Mutter liebte die Oper. Sie nahm Yvonne mit in Vorstellungen von »Tosca«, »Carmen« und »La Traviata«. Sie war Mitglied bei den Freunden der Oper, was bedeutete, daß sie zu speziellen Empfängen gehen mußte und im Foyer, zusammen mit jeder Menge Tanten, Lachshäppchen bekam. Der Opernchef hielt einen kleinen Vortrag über den Komponisten, und ein älterer Opernstar erzählte Geschichten aus seinem Leben und sang ein paar Töne.
In der Welt der Oper lebte die Mutter auf. Sie liebte die bunten Kostüme, die Pracht und die Schminke. Die starken Gefühle, die für sie so destruktiv waren – eingekapselt und erstickend oder plötzlich und unkontrolliert explodierend –, waren hier gezähmt und zu schöner Kunst veredelt.
Yvonne verabscheute die Opernwelt, für sie war sie eine einzige große Psychose. Das schlimmste war, daß die Mutter und sie so gut hineinpaßten. Die Mutter war immer kräftig geschminkt, sie trug tiefrote oder kobaltblaue Kostüme, dicke Goldketten und eine Perücke, weil ihre Haare durch ihre schlechten Perioden ungepflegt und struppig aussahen. Und daneben Yvonne in ihren Tüllkleidern, Shirley-Temple-Locken und Haarschleifen. Sie hatte auf die Bühne gehen und sich ins Libretto hineinschreiben lassen können.
Aber an diesen Abenden hatte sie immerhin saubere Kleider an und roch nicht nach Pipi.
In der neunten Klasse kam eine energische Theaterpädagogin an die Schule. Sie ging durch die Klassen und warb Teilnehmer für eine Inszenierung von Ionescos »Die kahle Sängerin«.
»Ich brauche junge Leute, die bereit sind, sich auf etwas einzulassen«, sagte sie begeistert und fuchtelte unter dem gestickten Poncho mit den Armen. »Gibt es hier
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