Saubere Verhältnisse
solche jungen Leute?«
»Yvonne, Yvonne«, schrieen die Jungen, die sie sonst immer mobbten.
»Wer ist Yvonne?«
Sie wollte im Erdboden versinken.
»Prima, Yvonne. Wie heißt du mit Nachnamen? Ich schreibe dich auf. Am Freitag, um 10.30 in der Aula. Bis dann.«
Und als der wohldressierte kleine Hund, der sie war, ging sie hin.
Es gab viel mehr Interessierte als Rollen. Aber die meisten sprangen bald wieder ab. Die beliebten Mädchen merkten schnell, daß es keine glamourösen Rollen gab, die sie zu Stars machen würden. (Ich habe gedacht, sie sagte »die fahle Sängerin«. Heißt es wirklich die »kahle«? Nein, dann lieber nicht.) »Wird die Teilnahme zur Note gerechnet?« fragte ein Mädchen, und als sie hörte, daß das nicht der Fall war, verschwand sie mit drei, vier anderen. Dann waren nur noch die übrig, die hofften, vom Unterricht befreit zu werden. Aber nur die erste Einführungsstunde fand während des Unterrichts statt, danach mußten sie in der Freizeit kommen. Schließlich war eine kleine Schar von Schülern übrig, die sich schüchtern anschauten. Yvonne war die einzige aus ihrer Klasse, dafür war sie sehr dankbar.
Nachdem sie in den ersten Stunden die üblichen peinlichen Theaterübungen absolviert hatten, fingen sie mit den Proben an. Yvonne ratterte ihre Sätze genauso leise und eintönig herunter wie die anderen. »Die kahle Sängerin« war ein absurdes, völlig unverständliches Stück, aber es hatte den Vorteil, daß es nichts machte, wenn man ein paar Sätze übersprang oder sie in der falschen Reihenfolge sagte. Niemand merkte den Unterschied.
Bei der Premiere passierte etwas mit ihr. Als sie auf der Bühne der Aula stand, war ihre Nervosität wie weggeblasen. Obwohl die ganze Schule zuschaute, hatte sie das Gefühl, ganz allein zu sein. Nicht auf unangenehme Weise allein, sondern forderungslos und entspannt. Wie wenn man abends im Bett liegt und die Gedanken frei und halb im Traum wandern.
Plötzlich war sie die Mrs. Smith, die sie spielte. Sie bewegte sich anders, bekam eine andere Stimme. Als ob ein fremder Mensch in ihr verborgen gewesen wäre, der nun hervorkam. Sie verstand diese merkwürdigen Sätze nicht, aber diese andere verstand sie und sprach sie wie selbstverständlich. (Im nachhinein war ihr klargeworden, daß in ihrer Mrs. Smith viel von der Mutter war. Wenn man es recht bedachte, war sie ja in einem absurden Drama aufgewachsen, und wenn die Mutter ihre dreistündigen Monologe abfeuerte, konnten sowohl Ionesco als auch Beckett nach Hause gehen.)
Nach einer Weile verschwand das Gefühl des Alleinseins, und ihr wurde die Anwesenheit des Publikums bewußt. Es war ganz still, und dennoch erregte es sie. Sie traute sich, seine Gegenwart zu benutzen, und verstand den Sinn des Worts Publikumskontakt.
Die Vorstellung war ein Erfolg. Alle sprachen von Yvonnes schauspielerischer Leistung. Sie wurden eingeladen und spielten in anderen Schulen. Erst in der Heimatstadt und dann im ganzen Bezirk. Ihre Klassenkameraden hatten plötzlich Respekt vor ihr. Sie schienen sich plötzlich nicht mehr sicher zu sein, wer sie war, und manchmal hatte sie das Gefühl, daß sie ein bißchen Angst vor ihr hatten. Ein Junge, der gesellschaftskritische Gedichte schrieb und Vorsitzender des Schülerbeirats war, sprach mit ihr wie mit einer Gleichgestellten.
Sie ging auf den Wirtschaftszweig des Gymnasiums, hatte jedoch Probleme mitzukommen. Die Mutter beanspruchte immer mehr von ihrer Zeit. Wie üblich wahrte sie nach außen den Schein und wirkte recht gesund, wenn sie bei ihrem Arzt war. Nur Yvonne wußte, daß es der Mutter schlechter ging als je zuvor. Aber von nun an konnte nichts mehr ihr wirklich weh tun. Sie wußte, daß sie schlummernde Kräfte in sich hatte, die sie herauslassen würde, wenn es soweit war.
Dann ging der alte Willenius in Pension. Die Mutter bekam keine Medikamente mehr verschrieben und mußte nun in die Ambulanz eines Krankenhauses gehen. Endlich wurde sie stationär behandelt. Yvonne kam zu einer Familie auf dem Land, was eine große Umstellung für sie war, sie hatte ihr ganzes Leben, Sommer wie Winter, in der Stadt zugebracht.
Im Schulbus lernte sie Gunnar kennen, ihren ersten Freund. Er lernte Automechaniker und war langsam, träge und gelassen. Eines Tages setzte er sich im Bus neben sie, legte seine ölverschmierte Hand auf ihre, und also gingen sie miteinander. Seine Eltern hatten Milchkühe, und Yvonne war einmal bei der Geburt eines Kalbes dabei, bei der
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