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Sauberer Abgang

Sauberer Abgang

Titel: Sauberer Abgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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versuchte ihn aufzurichten. Sein Herz klopfte noch immer viel zu heftig. Der alte Herr hing in seinen Armen wie ein Mehlsack. Karl Bastian war weißhaarig, knochig, zäh und 82 Jahre alt, aber kein ausgemergelter Greis. Will schob den Teppich beiseite, über den auch er schon gestolpert war. Man sollte ihn zusammenrollen und wegpacken. Aber er wußte, was sein Vater dazu sagen würde: »Den hat Mutter gekauft!« Und was Karl Bastians Frau angeschafft hatte, war heilig.
    Will wehrte sich nur halbherzig gegen das schlechte Gewissen, das sich anschlich. Er hätte vielleicht zu Hause bleiben sollen, Karl Bastians vorhersehbarer Verfall war schließlich der Grund, warum Will bei ihm eingezogen war – nicht der einzige Grund, aber der einzige, den man vorweisen konnte.
    Er spürte ein ungewohntes Gefühl in der Kehle und in den Augen. Flennen? Vor Rührung? Er? Schließlich hatte er dem alten Knacker oft genug den Tod an den Hals gewünscht, wieso dann Krokodilstränen, bloß weil man für kurze Zeit hatte glauben können, das Ende sei eingetreten?
    Als Karl Bastian endlich stand, knickte er gleich wieder ein. Will legte ihm den Arm um die Schultern, zart wie Vogelknochen, dachte er in einem weiteren Anfall von Zärtlichkeit.
    Der Alte fluchte vor sich hin, als er, auf Will gestützt, zum Bett hinkte.
    »Soll ich nicht doch besser den Notarzt anrufen?« Will zog ihm den Morgenmantel von den Schultern und half ihm ins Bett.
    »Untersteh dich!« Karl Bastian schüttelte den Schädel, auf dem sich die Haare wie weiße Vogelfedern sträubten, und zog die Bettdecke hoch bis unters Kinn. Als Will unschlüssig stehenblieb, drehte er sich zur Wand und raunzte: »Mach, daß du rauskommst.« Will schloß die Tür rücksichtsvoll leise hinter sich und durchquerte auf Zehenspitzen den Flur, bis er merkte, wie er sich aufführte. Wie eine Glucke. Wie Mutter.
    Er sah sich im Garderobenspiegel vorbeigehen. Wie Vater. Der gleiche viel zu lange Oberkörper, leicht vornübergebeugt. Der gleiche wirre Haarschopf – nur war seiner noch nicht weiß. Will ging ein paar Schritte zurück und sah sich ins Gesicht, was er normalerweise sogar beim Rasieren vermied. Die gleichen großen blaugrauen Augen. Die gleichen scharfen Linien zwischen Nasenflügeln und Mundwinkeln. Er sah dem Alten immer ähnlicher. Schlimmer noch: Er wurde ihm immer ähnlicher. Will drehte seinem Spiegelbild den Rücken zu.
    In der Küche stand eine Flasche Rotwein auf dem Kühlschrank, viel war nicht mehr drin. Der Alte bevorzugte den billigsten Rotspon aus dem Supermarkt, im Grunde war es ihm egal, was er abends trank: Hauptsache, es enthielt Alkohol und machte müde. »Rotwein ist für alte Knaben eine der …« Der dumme Spruch reimte sich auf Gaben, aber Will fiel partout nicht das dazugehörige Adjektiv ein. Er wischte mit dem benutzten Küchenpapier, das Karl liegengelassen hatte, über den Kühlschrank und ging hinüber in sein Zimmer.
    Seltsam, wieder hier zu sein. Es war auch keine Entschuldigung, daß Vera ihn rausgeschmissen hatte aus der gemeinsamen Wohnung und daß er bei der Zeitung gekündigt hatte, bevor sie ihm mitteilen konnten, daß er zur Avantgarde der Mitarbeiter gehören würde, auf deren Dienste wir, leider, aber die konjunkturelle Lage, wir bedauern nichts mehr als das, werden verzichten müssen. Die Abfindung hatte er sich mit diesem heroischen Schritt der Selbstbestimmung natürlich auch vermasselt.
    Er hatte bei den Kollegen verbreitet, er wolle endlich das Buch schreiben, das er schon seit Jahren plane – über die Frankfurter Nachkriegsarchitektur. Ein Sabbatical einlegen. Nachdenken über die Zukunft des Journalismus, Deutschlands und der Welt und sich neu positionieren auf dem Feld der Möglichkeiten. Als sie verlegen zur Seite blickten, während er gute Laune mimte, gab er es auf und zählte die Tage, bis er endlich gehen konnte.
    Das Nützliche mit dem Unvermeidlichen verbinden. Ja ja. Man macht sich auch in reiferen Jahren noch Illusionen.
    Im Bett dachte er an den letzten Tag, den er in dieser Wohnung verbracht hatte, bevor er nach dem Abitur ausgezogen war – natürlich in eine Wohngemeinschaft. Max und Julius wohnten bereits in der großen dunklen Altbauwohnung, in einer Seitenstraße hinter der Häuserreihe, an deren Stelle heute die Zwillingstürme der Deutschen Bank standen, verspiegelte Glaspaläste, 158 Meter hoch.
    Karl hatte die monatliche Überweisung um hundert Mark gekürzt, obwohl Will nach seinem Auszug teurer lebte, weil

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