Sauberer Abgang
ganze Geschichte mit seiner Mutter unter Heulen und Zähneklappern herausgewürgt hatte, verabredete er sich mit ihm fürs Wochenende. Der Junge mußte raus aus seinem Elend.
Am Abend seines ersten Tages am Baggersee war Marcus krebsrot, trotz Sonnencreme. Nach zwei Gläsern Wein war er volltrunken. Und nach dem dritten machte er ihnen allen eine Liebeserklärung.
»Ihr seid meine Familie«, hatte er feierlich verkündet. »Ihr seid alles, was ich habe.«
Thomas war wenige Tage später zu ihnen gestoßen. Damals hatte er noch weißblonde Haare, die um seinen Kopf standen wie ein Heiligenschein. Er war eines Abends an ihnen vorbeigeschlendert, den Arm besitzergreifend um eine Frau gelegt, deren lange, seidige Haare die Farbe von dunklem Stroh oder Honig hatten. Ungewöhnlich für Max, den Schüchternen, daß er den beiden ein Glas vom Rotwein angeboten hatte, den er gerade ausschenkte. Fünf Minuten später kamen Jenny und Thomas zurück. Thomas hatte nicht gerade begeistert ausgesehen, wahrscheinlich hätte er Jenny lieber für sich behalten.
Er hatte die Rechnung ohne Jenny gemacht. Sie teilte sich mit allen, die es wollten.
Will war einer der drei, die nicht wollten. Es gab ihm einen Stich in die Magengrube, jedes Mal, wenn er sie sah. Ihre Schönheit berührte ihn, aber zugleich ließ sie ihn kalt. Jenny mußte das gemerkt haben. »Du bist mein Freund«, sagte sie irgendwann und lachte. »Weil du immun bist. Weil du mich nicht magst.«
Die anderen waren nicht immun gewesen, jedenfalls nicht Max und Michel und Marcus und schon gar nicht Thomas. Thomas lief ihr hinterher und ließ sich vor aller Augen zurückschicken wie ein Hund. Marcus himmelte sie an – sie mußte ihn irgendwann einmal verführt haben, er kam von einem Spaziergang mit ihr zurück, Glück und Verlegenheit im geröteten Gesicht. Max erzählte ihm irgendwann abends, als er schon betrunken war, daß sie ihn so lange angeflirtet habe, bis er an sein Glück zu glauben begann. »Sie hat mich stehengelassen mit offener Hose«, hatte er geflüstert und fast geheult dabei.
Michel Debus kam von einem »Spaziergang« mit ihr zurück und sah geradezu unanständig zufrieden aus. Wahrscheinlich hatte er sie einfach gevögelt, statt sich in sie zu verlieben. Und Julius? Julius machte sich nichts aus Sex. Und wenn er jemanden liebte, dann Leo.
Im Grunde war das Pentakel schon an jenem Tag zerbrochen, an dem Jenny aufgetaucht war und sich wie selbstverständlich neben Leo gesetzt hatte. Leo mußte es geahnt haben. Vielleicht deshalb – das »Projekt«, das Jenny ausschloß? Dann hätte das Verhängnis mit ihr begonnen.
Leos lächerliches, großartiges, größenwahnsinniges Projekt. Für das sie im Spätsommer 1981 täglich zweimal rund um den Baggersee liefen. Für das sie Liegestütze machten und Bauchpressen. Für das Julius schlank wurde und Max sportlich und Marcus sonnengebräunt.
Das Projekt endete an einem kalten Winterabend in einer Katastrophe. Was geschehen war, stand am nächsten Tag in der Zeitung. Als die Polizei Leo kurze Zeit später festnahm, war ihnen allen klar, daß es einer von ihnen gewesen sein mußte, der ihn verraten hatte.
Wer sonst?
MEINE HERREN,
DA WIRD IHR LACHEN
AUFHÖREN
1
Lieber Freund. Mein Lieber. Lieber Mann. Sehr lieber Mann. Mein Liebster. Mein Schönster. Geliebter. Heißgeliebter Mann. Das Liebste auf der Welt. Mein Einziger.
Mit herzlichem Gruß. Und so bin ich denn die Deine. Ich hab’ Dich ja so lieb, Du. Wärst Du doch bei mir. Ich denk an Dich so stark – spürst Du es? Ich warte auf Dich mit liebendem, glaubendem Herzen. In unendlicher, zu Dir strömender Liebe. Ich küsse Dich mit großer Sehnsucht. Aufs Innigste. Aufs Zärtlichste. Ich möchte nur Deine Geliebte sein, sonst nichts. Wie herrlich es ist, Dich zu besitzen.
Will legte die Briefe beiseite, die sie gelocht und in einen Aktendeckel geheftet hatte, dessen grüne Pappe im Laufe der Jahre blaß geworden war. Seine Mutter mußte ihrem künftigen Mann jeden Tag geschrieben haben, seit 1943. Fast jeden Tag. Er hatte die Briefe nur überflogen, es waren viele, zu viele. Erst berichteten sie über Belangloses und Lebenswichtiges aus einem Alltag im Krieg. Marga war stolz darauf, Holzhacken gelernt zu haben – und darauf, noch aus den magersten Lebensmittelrationen Festessen zubereiten zu können. Später wurde der Ton ernster. Wie eine gute Schülerin vermeldete Marga geistige Auseinandersetzungen – mit Nietzsche, zu seiner
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