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Sauberer Abgang

Sauberer Abgang

Titel: Sauberer Abgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Verblüffung. Und, warum auch immer, mit Lessing.
    Irgendwann änderte sich der Ton ein weiteres Mal. Will nahm den Aktendeckel wieder auf und blätterte zum 12. August 1943. Das mußte nach dem zweiten Besuch Karls gewesen sein. Es blieb ihnen nur noch eine dritte Begegnung, bis sie sich aus den Augen verloren. Aus diesen drei Begegnungen setzte sich eine Liebe zusammen, die ein Leben lang hielt – aus drei Begegnungen und den Worten, die den Zwischenraum anfüllten.
    Will war nach Heulen zumute. Er kannte die Familienlegende, natürlich. Wie sein Vater im Februar 1943 einen Teil seines Fronturlaubs nutzte, um die Schwester eines Kameraden zu besuchen, den eine Fliegerbombe erwischt hatte. Wie er sich sofort in sie verliebt hatte. Wie er schon im Spätsommer 1943 wieder bei ihr aufkreuzte. Und wie er sie im Mai 1944 das letzte Mal sah – für fast zehn Jahre.
    Will griff nach dem nächsten Aktendeckel, Soennecken Bonna ES Quart stand darauf und, in dicker schwarzer Sütterlinschrift, »Marga Brandes«. Karl hatte ihr geantwortet, in diesen letzten Jahren des Krieges, die er als Marineartillerist in der Bretagne verbrachte. Auch noch aus der französischen Gefangenschaft. Marga hatte die kurzen Mitteilungen aus Erquy/Côtes du Nord beigeheftet, »Correspondance des Prisonniers de Guerre« stand auf den dünnen Blättern, die man zu einer Art Kuvert zusammenfalten konnte. Irgendwann jedoch war der Kontakt abgebrochen, ab 1948 schien sie die Briefe an ihn nicht mehr abgeschickt zu haben, das dünne, bräunlich gewordene Papier wies jedenfalls keine Knickspuren mehr auf. Dennoch hatte sie weitergeschrieben, mit blauer Tinte, in klarer, ruhiger Schrift. Will legte den zweiten Pappdeckel zum ersten und griff nach den letzten beiden Ordnern. Nicht mehr jeden Tag, doch noch immer, als ob es nur eine Frage von Wochen sein würde, bis der Geliebte wiederkäme. »Aber einmal wirst Du wieder bei mir sein.«
    Will spürte seine Kehle eng werden. Es war ja nicht das erste Mal, daß er sich über die Liebe seiner Eltern wunderte. Liebe, schon nach drei Begegnungen? Liebe über Jahre hinweg, ganz offenbar ohne ihre Erfüllung? Hatten die beiden sich überhaupt auch nur geküßt? Liebe, die auf Worten gründete, während er bei Vera gerade mal drei Abende, fünf Flaschen Riesling und verdammt wenig Überredungskunst gebraucht hatte …
    Hatte er Vera geliebt? Er wußte es nicht mehr. Ebensowenig, ob er Dagmar geliebt hatte oder Karin oder Monika.
    Will strich mit beiden Händen die Pappdeckel glatt, die sich an den Kanten wölbten, so weich waren sie geworden mit der Zeit. Kann man Liebe erfinden? Marga hatte die Liebe zu Karl in ihren Briefen entworfen. Mit Worten, denen das Leben nacheifern mußte. Mit Beschwörungen, gegen die jede Wirklichkeit zu schwach war. Sie hatte sich ein Bild gemacht, dem sich Karl willig unterworfen hatte.
    Will wußte nicht, ob sein Vater seiner Mutter ebenso treu gewesen war wie diese ihm. Vielleicht liebte er längst eine andere, als Marga ihn wiederfand? Aber schon der erste Brief, der ihn nach all den Jahren erreichte, mußte ihn zurückgeholt haben. Hatte er ihre Handschrift erkannt auf dem Kuvert? Es mit zitternden Fingern aufgerissen? Hatte er den nächsten Zug bestiegen und sie zu sich geholt?
    »Es ging dann alles sehr schnell«, pflegten beide an dieser Stelle der Legende zu sagen.
    Will blätterte im letzten der Papierbündel nach hinten. »Mein einzig Geliebter«, begann der Brief. Er las nicht weiter.
     
    Dalia war gestern abend verschwunden, nachdem sie die Kneipe verlassen hatten, von einem Moment auf den anderen. Er war traumverloren neben ihr hergegangen, hatte sich ihrem Schritt und ihrem Tempo wie durch ein Wunder angepaßt, hatte das Gefühl gehabt, daß es sich so gehöre, so, mit ihr und neben ihr zu gehen, sich im Einklang zu bewegen, jetzt, für immer, ihre Hand in seiner. Im nächsten Moment war sie weg, untergetaucht in der Dunkelheit der Nacht, als er abgelenkt war durch eine Horde betrunkener Jugendlicher, die ihnen entgegenkam. Das Gefühl der Verlassenheit, das ihn überkommen hatte, war fremd und furchtbar zugleich.
    Er hatte nicht nach ihr gesucht. Er war nach Hause gegangen, nein, es war ja nur die Wohnung seines Vaters. Später wußte er nicht zu sagen, ob er geahnt hatte, was er finden würde oder ob es der Gedanke an Dalia war, der ihn dazu bewogen hatte. Aber er war zum Schrank gegangen, in dem die Unterlagen seiner Mutter untergebracht waren – als hätte es ihm

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