Sauberer Abgang
Leo?
Will zögerte. Es wäre das vernünftigste, die Polizei zu verständigen. Nur, wie sollte er denen erklären, daß er schon wieder die Leiche eines seiner Freunde gefunden hatte? Und die Geschichte mit Leo – wer würde ihm das schon abnehmen? Er legte das Pentakel auf den Schreibtisch und warf einen letzten Blick auf Max. Der alte Freund sah friedlich aus, fast ein bißchen erleuchtet. Wenn er es nicht besser wüßte, hätte er einen Sekundentod im Moment höchsten Glücks vermutet. Er zog die Tür zum Büro behutsam hinter sich zu. Im Restaurant war niemand. Dann ging er.
Diesmal bekam er Julius gleich ans Telefon. Bis er Michel aufgetrieben hatte, dauerte es etwas länger. Sie trafen sich in der Sandwichbar gegenüber von Wechslers Büro.
»Damit ist der Fall wohl klar«, sagte Julius.
»Leo? Ich glaube es einfach nicht.« Michel war den Tränen nah.
»Max hat Jenny getroffen, hat er mir am Telefon erzählt.«
»Jenny? Das glaube ich erst recht nicht.«
»Egal.« Julius klang energisch.
Will sah ihn von der Seite an. Es war ihm beim letzten Treffen schon aufgefallen, aber jetzt sah man es deutlich: Julius hatte abgenommen. Er sah schlanker und drahtiger aus.
»Der Überraschungseffekt ist vorbei. Ich werde Leo unter Garantie nicht so nah an mich ranlassen, daß er mir den Hals umdrehen kann. Und außerdem ist es Zeit, zur Polizei zu gehen.«
Er sah Will auffordernd an.
Will nickte. Aber er mußte nicht zur Polizei gehen. Die kamen schon von selbst, sobald ihnen aufgefallen war, daß Max ihn angerufen hatte, kurze Zeit vor seinem Tod.
Doch sie kamen nicht. An diesem Tag nicht und auch nicht am nächsten. Will Bastian war das recht. Feigling bleibt Feigling.
3
1981
Max Winter war sein eigener Folterknecht. Es brauchte nicht viel, um ihm unendliche Qualen zuzufügen: Es reichte ein Spiegel und die Aufforderung, hineinzuschauen.
Vor einigen Wochen noch war er nach spätestens zehn Minuten verzweifelt aus dem Zimmer gelaufen, in die Küche, Kaffee kochen oder Zeitung lesen. Mittlerweile hielt er es schon eine Stunde lang aus. Das war ein echter Fortschritt. Er schob den Spiegel zurecht, den er auf den Tisch am Fenster gestellt hatte, und nickte dem Gesicht, das ihm entgegenstarrte, aufmunternd zu.
Kapitel 5, 1. Lektion: »Sie sollen älteren Damen in einer Reihenhaussiedlung den ›Großen Brockhaus‹ verkaufen. Auf den ersten Eindruck kommt es an. Wie sehen Sie aus?«
Max schloß die Augen und konzentrierte sich. Vertrauenswürdigkeit. Seriosität. Charme. Intelligenz. Gute Kinderstube. Hilfsbedürftigkeit. Er wollte der ersten alten Dame, die ihm die Tür öffnete und bei seinem Anblick nicht gleich nach der Polizei schrie, das Bild eines jungen Mannes vorspiegeln, der es gut meinte und ehrlich war. Student der Jurisprudenz aus gutem Hause, unverschuldet verarmt. »Ich würde dies alles nicht tun, gnädige Frau, wenn nicht meine Mutter …«
Er öffnete die Augen. Er sah einen verlegen blickenden Kerl, braune Ringellöckchen, brave blaue Augen, halbherzig gebleckte Zähne. Dem würde er noch nicht einmal eine Spende fürs Müttergenesungswerk geben.
»Mit Selbstbewußtsein zum Erfolg« hieß das Buch. Er hatte niemandem davon erzählt, daß er es mittlerweile mit praktischer Lebenshilfe versuchte, aber er hoffte, daß es nützte.
Kapitel 5, 2. Lektion: »Versuchen Sie, Gefühle zu zeigen – Haß, Liebe, Sehnsucht, Ablehnung.«
Max seufzte tief auf. Will hatte ihm das Buch empfohlen, nach dem dritten Bier in der Wohngemeinschaftsküche. Julius war nicht dagewesen, nur deshalb hatte er sich getraut, die zwei größten Probleme seines Lebens anzusprechen. Das eine war seine Schüchternheit. Das andere trug einen Frauennamen.
Er stand auf, ging in die Küche und schaltete den Backofen ein. Dann mischte er Mehl, Milch, Zucker, Butter und Eier, verrührte alles zu einem flüssigen Teig und ließ den Teig sich setzen. Die drei Äpfel in der Obstschale reichten gerade eben für »Rosas Apfelkuchen«, das einfachste Rezept für einen Kuchen, das er kannte. Julius würde bald nach Hause kommen, er liebte es, wenn es Kuchen gab. Und Will aß sowieso alles, was man ihm hinstellte. Ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen. Er hingegen … Max kniff sich in die Taille. Er hatte keine. Er hatte keine Haare auf der Brust. Keine Muskeln, keinen vernünftigen Bartwuchs. Und Hüften wie eine Frau.
Er schälte die Äpfel, schnitt sie in Spalten, träufelte Zitronensaft darüber und mischte sie unter den
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