Saufit: Von einem, der auszog, nie wieder krank zu werden (German Edition)
einen Tee?«
Ich lasse mir eine Tasse kalorienarmen Löwenzahntee einschenken. Wir befinden uns in einem sparsam möblierten Raum mit einem riesigen Fenster, von dem aus man auf ausgedehnte Eichenwälder blickt. Paul, der im Hauptberuf Event-Manager ist, hat zwar Hängeschultern, wirkt aber für einen 64-Jährigen erstaunlich rüstig. Er hat durchdringende grüne Augen, eine tiefe Stimme mit einem leicht näselnden Akzent, der mir verrät, dass er ursprünglich aus Tennessee stammt, und er hat offenbar eine Vorliebe für Trainingshosen.
Gemeinsam mit seiner Frau und Co-Autorin Meredith Averill sitzen wir am Tisch und nippen an unserem Tee.
»Ziel der Kalorienbeschränkung ist nicht etwa, das Körpergewicht zu verringern. Unser Ziel ist, psychisch und physisch so gesund wie möglich zu sein. Allerdings nimmt man dabei natürlich auch ab.«
Pauls Gewicht ist von 74 auf knapp 62 Kilo gesunken. Er nimmt ein reichhaltiges Frühstück zu sich (zum Beispiel Lachs, Gerste, viel Gemüsesuppe), ein vergleichsweise bescheidenes Mittagessen (etwa Gemüsesmoothies, Brot aus Getreidekeimen mit Gemüsepaste) und kein Abendessen.
Ich muss mir unbedingt verkneifen, einen blöden Spruch abzulassen, den die beiden wahrscheinlich schon 1000 Mal gehört haben: Klar, so lebt man vielleicht länger – aber wozu eigentlich, wenn man weder Lasagne noch Sahnetorte essen darf? (Oder die Variante: Selbst wenn man mit der Dauerdiät sein Leben letztlich nicht verlängern kann, fühlt es sich auf alle Fälle so an , als hätte man mindestens 150 Jahre auf dem Buckel.)
Doch Paul entzieht dieser Art zynischer Bemerkungen von vornherein den Boden. Er ist glücklich mit seinem fress-freien Leben. Wirklich glücklich. »Ich werde davon richtig high«, sagt er. »Durch die Kalorienbeschränkung fühle ich mich einfach rundum besser – körperlich und geistig.«
Er hat sein Kinn in die Hand gestützt, Handgelenk und Arm bilden einen perfekten 90-Grad-Winkel. Sein Arm ist von einem Netz blauer Venen durchzogen.
Diese Art der Ernährung, sagt Paul, steigert unter anderem seine Konzentrationsfähigkeit. Bei Schachturnieren hat er Gegner, die halb so alt sind wie er: »Einmal spielte ich gegen einen Großmeister. Er war übergewichtig und verdrückte im Laufe der Partie drei Pizzas. Ich wusste, dass es nur eine Frage von Zeit war, bis sein Körper schlappmachen würde. Und genau so kam es.«
Das will ich gerne glauben. Trotzdem bin ich völlig erstaunt darüber, wie die Kalorien-Beschränker es schaffen, sich in unserer ess-zentrischen Welt an ihre Diät zu halten. Unser ganzes Leben kreist doch im Wesentlichen um unsere Mahlzeiten.
»Komischerweise glauben die Leute ja, dass viel Essen viel Spaß bringt«, sagt Meredith. »Aber das ist ein reiner Mythos. Schauen Sie sich mal unter unseresgleichen um: Wir sind alle immer ziemlich fröhlich und beschwingt.«
Paul stimmt ein: Weihnachten und Thanksgiving verbringt er nach der Devise »fasten statt feiern«. Auf Sekt und Punsch kann er prima verzichten: »Kalorien-Beschränker brauchen keinen Rausch, um gut drauf zu sein. Sie interessieren sich füreinander, da ergeben sich interessante Gespräche ganz von selbst.«
Wenn man seinem Körper nur eine beschränkte Anzahl Kalorien zuführt, zählt jeder einzelne Bissen. Aus diesem Grund hat Paul etwas erfunden, das er »Geschmacksmeditation« nennt. Davon hatte ich schon in seinem Buch gelesen. Nun bitte ich ihn um eine kleine Demonstration.
Paul ist einverstanden und holt ein Schälchen Heidelbeeren aus dem Kühlschrank. Wir schließen die Augen und konzentrieren uns einige Minuten nur auf unseren Atem. Einatmen … ausatmen. »Wie Laub, das in einer sanften Brise leise raschelt.« Dann beginnt er zu sprechen.
»Stellen Sie sich vor, jemand hat Ihnen ein Geschenk gemacht.«
Paul spricht mit sanfter Stimme, wie ein Seelsorger.
»Dieses Geschenk wird Ihren Körper auf ganz besondere Weise nähren. Und während Sie so einatmen und ausatmen, sehen Sie vor Ihrem geistigen Auge, dass es eine Heidelbeere ist, die Sie geschenkt bekommen haben. Können Sie sehen, wie Sie in eine Schüssel greifen und eine Heidelbeere, nur eine einzige Beere, nehmen und an die Lippen führen? Jetzt steigt Ihnen der Duft dieser Heidelbeere in die Nase. Wonach riecht sie? Vielleicht ein wenig erdig?
Stellen Sie sich nun vor, wie Sie diese Heidelbeere ganz behutsam in Ihren Mund legen … Betrachten Sie mit Ihrem geistigen Auge, wie sie langsam von den Lippen zu den Zähnen
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