Saufit: Von einem, der auszog, nie wieder krank zu werden (German Edition)
Alter erreicht.
Großvater lebt in einer kleinen Wohnung in der 61st Street. Seit zehn Jahren besuche ich ihn alle paar Wochen. Als ich in sein Zimmer komme, sitzt er mit der Brille auf der Nasenspitze vor seinem riesigen Computerbildschirm und tippt an einer E-Mail. Ich schätze die Schriftgröße auf 72 Punkt; auf eine Seite passen gerade mal zwei Buchstaben. Aber immerhin: Obwohl er bald 100 ist, schreibt er immer noch E-Mails.
Wie immer erhebt er die Faust zum Kampfesgruß und sagt: »Lass mich das hier noch eben schnell zu Ende schreiben.«
Großvater ist ein außergewöhnlicher Mensch. Sein Name ist Theodore Kheel; er wurde nach Theodore Roosevelt benannt und zeichnet sich durch dieselbe energiegeladene Unermüdlichkeit und dieselbe solide Statur aus wie dieser. Wenn ich Lust auf ein paar Minderwertigkeitskomplexe hätte, bräuchte ich mir nur seinen Lebenslauf vor Augen zu führen.
Er war Anwalt. Doch diese Berufsbezeichnung kann das Spektrum seiner Aktivitäten noch nicht einmal ansatzweise vermitteln. Bei Arbeitskämpfen war er als Vermittler tätig und maßgeblich an der Beendigung Hunderter Streiks beteiligt – Streiks von Bediensteten des öffentlichen Nahverkehrs, Bäckern, Zugführern und so ziemlich jeder anderen Berufsgruppe unter der Sonne. Er unterstützte die Bürgerrechtsbewegung und sammelte Spenden für Martin Luther King Jr. Und er handelte mit Zwergponys – eine Tätigkeit, die allerdings ausnahmsweise nicht von Erfolg gekrönt war.
Aber darum geht es nicht. Sondern darum, dass er mit unglaublich vielen Projekten beschäftigt war und ist. Er setzt sich für Internet-gestützte Lernangebote in ländlichen Gegenden ein. Er investiert in ein Öko-Hotel in der Karibik. Er kämpft für nachhaltiges Kochen und gegen die drohende Übervölkerung der Erde (eine Mission, der er sich allerdings erst nach der Zeugung seiner sechs Kinder verschrieb).
Seit ein paar Jahren ist er natürlich weniger aktiv. Aber nicht viel weniger: Noch mit 92 stellte er eine Kampagne für die kostenlose Nutzung von Bussen und U-Bahnen auf die Beine und begründete seine Forderung in Gastkommentaren für Zeitungen damit, dass sich das Stauaufkommen in New York auf diese Weise erheblich reduzieren ließe.
Nein, er lässt es eigentlich nicht viel ruhiger angehen. Was zweifellos eines der Geheimnisse seiner Langlebigkeit ist. Die renommierte Langlebigkeitsstudie der MacArthur Foundation, die über 1000 Einwohner von New England acht Jahre lang wissenschaftlich begleitete, kam zu dem Schluss, es sei im Alter von entscheidender Bedeutung, ein aktives, sozial vernetztes, engagiertes und intellektuell anspruchsvolles Leben zu führen. Natürlich dürfen Sie trotzdem in Rente gehen – doch Sie sollten sich auch im Ruhestand leidenschaftlich einer Beschäftigung oder Aufgabe widmen. Sie brauchen einen Grund, um morgens überhaupt aufzustehen.
Großvater schlurft zu mir an den Tisch. Er geht vornübergebeugt, aber er hat immer noch alle Haare auf dem Kopf und buschige Augenbrauen, die wie Pfeile zur Zimmerdecke zeigen.
Wir essen ohne Eile. Ich habe meine Cocktailgabel mitgebracht und spieße nach und nach die Bestandteile meines Salattellers auf. Normalerweise haut Großvater mit der flachen Hand auf den Tisch, wenn er mit dem Essen fertig ist. Aber inzwischen reden und essen wir schon seit einer Stunde, und noch hat er nicht auf den Tisch gehauen. Die Slow-Food-Bewegung wäre stolz auf uns.
Wir reden über öffentliche Verkehrsmittel und das Vermächtnis von Robert Moses, dem Hohepriester eines flächendeckenden Schnellstraßen- und Autobahnsystems (Großvater hält nicht viel von ihm). Und wir reden über den Film, den er sich am Vorabend angeschaut hat, einen seiner absoluten Lieblingsfilme: Wer den Wind sät von Stanley Cramer. Die Handlung dreht sich um das Leben von Clarence Darrow, einen Anwalt von vergleichbarem Format wie mein Großvater.
»Bist du Clarence Darrow mal persönlich begegnet?«, frage ich.
Großvater schüttelt den Kopf.
»Aber ich war dabei, als er einmal am City College einen Vortrag gehalten hat«, sagt er.
»Kannst du dich noch erinnern, was er damals gesagt hat?«
»Ja klar.«
»Und?«
»Es ging darum, dass wir unsere Existenz einem schier unglaublichen Zufall zu verdanken haben. Nämlich der Tatsache, dass von den Millionen Menschen auf dieser Welt ausgerechnet deine Mutter und dein Vater einander begegnet sind und beschlossen haben zu heiraten. Und dass es von den Millionen Spermien
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