Saure Milch (German Edition)
um 1880 herum Kriminelle
anhand ihrer Körpermaße katalogisierte. Fanni hatte darüber in dem Buch
›Gnadenlose Jagd‹von Jürgen Thorwald gelesen. Sie
war sich der geschichtlichen Entwicklung der Kriminalistik bewusst. Bertillons
Anthropometrie sollte, gerade als sie sich europaweit durchzusetzen begann, von
einem Identifizierungsverfahren überholt werden, das nicht nur ganz simpel,
sondern auch untrüglich war. Die Chinesen nutzten es schon seit einem
Jahrhundert. Und im Jahre 1902 kam dann der Tag,
an dem die beiden Mörder Alfred und Albert Stratton vor dem Central Criminal
Court in Old Bailey zum Tod durch Erhängen verurteilt wurden, weil sie ihre
Fingerabdrücke am Tatort zurückgelassen hatten.
Sprudel warf Fanni einen forschenden Blick zu, dann grinste auch er.
Sie erreichten ein Holzgatter, das am oberen Rand der Böschung entlanglief und
eine Weide einzäunte. Sprudel lehnte sich schnaufend dagegen.
»Ich muss nach Hause«, sagte Fanni.
Sprudel zuckte zusammen. »Ja, natürlich! Morgen?«
»Morgen ist Samstag«, erklärte Fanni während sie bereits den Rückweg
einschlug, »und dann kommt Sonntag. Mein Mann will am Wochenende die Thujen
zurückschneiden. Vielleicht sollte ich mich in der Wiese nach meinem Rundling
umsehen, während ich das Schnittgut zusammentrage.«
»Einen Versuch ist es wert«, sagte Sprudel, »obwohl ich eigentlich
großes Vertrauen in die Beamten von der Spurensicherung setze.«
Er schwieg einen Moment, dann lächelte er Fanni an und fragte: »Und
welche Aufgabe ist mir zugedacht für das kommende
Wochenende, Miss Marple?«
»Hast du keine Familie?«, platzte Fanni heraus.
»Nein«, sagte Sprudel trocken, »ich lebe seit Jahren allein.«
Fanni wagte nicht nachzuhaken. Sie kramte nach ihrem Autoschlüssel.
Ein paar Schritte noch, dann würden sie auf den Feldweg treffen, an dem Fanni
ihren Wagen abgestellt hatte. Das Sandsträßchen lief an dem Waldstück entlang
und mündete in eine Straße, die zu dem Dörfchen Seebach führte. Dort, an der
Marienkapelle, zweigten Landstraßen in verschiedene Richtungen ab. Eine davon
durchkreuzte Erlenweiler.
»Ich könnte am Samstag einen unserer Verdächtigen aufs Korn nehmen«,
redete Sprudel weiter, während Fanni die Autotür öffnete. »Wie wäre es mit
Böckl, dem Jäger?«
Fanni musste lachen. »Gut«, meinte sie, »nimm den Jäger aufs Korn.
Er hat Mirza vermutlich am besten gekannt. Böckl ist es ja auch gewesen, der
sie hergebracht hat.«
»Soweit ich aus den Protokollen weiß«, sagte Sprudel, »betreibt
Böckl in der Stadt eine Waffenhandlung. Samstags überfällt mich oft ein
besonderes Interesse für Schusswaffen, und da suche ich dann das Fachgespräch
mit einem talentierten Büchsenmacher.«
»Bleibt zu hoffen«, lächelte Fanni, »dass du Belege für alle seine
Angaben im Polizeiprotokoll entdeckst. Ein bestätigtes Alibi, und Böckl ist aus
dem Schneider.«
»Dann wären’s nur noch drei«, schmunzelte Sprudel, als Fanni bereits
den Schlüssel ins Zündschloss steckte.
»Am Montag sind wir jedenfalls wieder einen Schritt weiter«, sagte
sie zum Abschied und legte den Gang ein.
»Bis Montag dann«, antwortete Sprudel, und es hörte sich ein
bisschen traurig an.
»Pünktlich um zwei werde ich hier sein«, rief Fanni aus dem offenen
Fenster und fuhr los. An der Seebacher Kapelle holte sie das schlechte Gewissen
ein. Du sollst nicht, du kannst nicht, du darfst nicht, und überhaupt bist du
sowieso zu blöd, röhrte es. Du verrennst dich da in was, mahnte es. Du wirst
dich verirren, wirst eine Menge Federn lassen, und deiner Familie wirst du
schaden. Und wofür das alles?
»Für Gerechtigkeit«, wisperte Fanni.
Das Gewissen lachte sich scheckig: Fanni-Muttchen kämpft für Recht
und Freiheit. Fanni-Heimchen-am-Herd setzt alles daran, einen Unschuldigen aus
den Fängen der Justiz zu retten. Fanni-Mondkalb mutiert zur Heldin.
Im Kreisverkehr an der Friedenseiche nahm ihr ein Sattelschlepper
die Vorfahrt, und auf Höhe des TÜV -Geländes hupte
sie ein BMW -Fahrer nieder, weil sie nicht
sofort wegspritzte, als die Ampel auf Grün sprang. Fanni schrumpfte hinter
ihrem Steuerrad. Das Gewissen setzte zum Gnadenstoß an: Ist es nicht so, dass
der alte Klein der herzlosen Frau Fanni einen Dreck wert ist? Ist es nicht so,
dass sich Frau Fanni gerne in Szene setzen möchte nach all den Jahren, die sie
in Erlenweiler verträumt hat? Und ist es nicht so, dass sich Frau Fanni
vergafft hat, im reifen Alter von
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