Sax
auf Haushöhe geliftet, begannen das kreischende Duett der Handsägen. Ast um Ast fiel, bis es nur noch einen verstümmelten Torso zu entleiben gab.
Seither hallte der kahle Hof von Betrieb. Auch früher war das Lärmen der Container nicht zu überhören gewesen, das Kettenklirren, Flaschenschmettern, Sackplumpsen, Deckelschlagen, Räderscheppern. Aber im Lindenschatten hatte die Kakophonie immer noch etwas Entferntes gehabt. Jetzt aber mußte man unerbittlich
sehen
, was lief, und jeder Wortwechsel schlug ungedämpft herauf.
Der Baum fehlte
leibhaftig
. Er hatte die Lücke des Ghettos gefüllt, sein Stamm den Eingang zu Horners Turm geschützt. Frischknecht hatte die defekten Räder auf der einen Seite der Linde plaziert, die reparierten auf der andern, wo sie die meist jugendlichen Besitzer abholten und auf einer Runde durch den Hof ausprobierten. Jetzt war der Hof mit Kunststeinplatten belegt. Sie führten zum Fitneßstudio im Parterre des «Schwarzen Gartens», und im Schaufenster konnte man zusehen, wie sich Zeitgenossen beiderlei Geschlechts reckten und streckten, ruderten und hüpften, auf Ergometern strampelten oder auf Laufbändern marschierten. Um halb elf erlosch diese Lichtquelle; danach war der Hof tot.
Vor über zwanzig Jahren waren sie in Wipfelhöhe eingezogen. Wenn Moritz abwesend, Jacques unterwegs war, hatte Hubert die Terrasse wie ein Baumhaus bewohnt, aus dem eine Tür, offen wie der Himmel, geradewegs in seine Kindheit führte. Denn auch in der Kleinstadt, wo er aufgewachsen war, hatte vor seinem Zimmer eine Linde gestanden. Ein paar Tage im Juni mischte sich der Geruch von frischem Brot aus Vaters Backstube mit dem Duft der Lindenblüte, der ihm den Atem stocken ließ. Welche Gnade, als ihm dieser Duft wieder zuflog, aus einer Lücke der Großstadt, Jahr für Jahr, als wären beide, der Baum und er, nicht älter geworden. Durch die Fenster wehte ein Glück herein, das, so sparsam es in seiner Jugend gewesen war, mit Erinnerung beschwert, die reine Überwältigung bedeutete. Glaube, Liebe, Hoffnung mochtendünn geworden sein, aber solange der Baum stand, lagen sie immer noch in der Luft.
Unbewegt hatte Achermann die Krone nie erlebt. Die Laubfrachten nickten und neigten sich wie vertraute Gestalten, die winkten und wieder eingingen in die Fülle namenlosen Grüns. Im Sommer hatte der Baum die Südseite des Hauses vor prallem Sonnenlicht bewahrt, das im Dunkel des Blattwerks spielte, als gingen tausend Augen darin auf. Im Winter aber zitterten die Schatten der Zweige auf dem Papier unter seiner Hand, und bei gelöschtem Licht rückten sie über die Wand hinter seinem Bett. Die Augen wanderten durch diesen stillen Nachklang des Figürlichen, bis sie zufielen, und im Schlaf noch fühlte er sich geborgen. Nun war die Linde weg, und wenn er in den ausgenüchterten Hof sah, kam es vor, daß ihn der Gedanke, daß er das entseelte Licht nicht mehr zu sehen brauchte, anrührte wie ein Trost.
Seit die Gründungsmitglieder der AAS immer öfter aushäusig waren, blieb oft tagelang nur noch Marybel im «Eisernen Zeit» zurück, auch wenn sie ihre Freundin Doris Leu hie und da zwei, drei Tage zum Baden nach Ragaz einlud. Die Zwillingsschwester des geschlagenen Peter war selbst eine unentbehrliche Quelle, obwohl sie die Schauplätze ihrer Kindheit mied. Lieber als Geister besprach sie schlimme Einzelheiten des Doppelsuizids. Man habe sich erst nicht im verschlossenen Wagen vergasen wollen, da man der Sicherheit der Prozedur nicht getraut und das Risiko einer dauerhaften Invalidität gefürchtet habe. Daher stand der Gebrauch der Militärpistole zur Debatte. Aber wer sollte zuerst schießen und notfalls zum Gnadenschuß bereit sein? Elisabeth weigerte sich strikt, Hand an sich selbst zu legen – Peter mußte, und wenn auch nur im letzten Augenblick, ihr Mörder gewesen sein. Der Verdacht, er könnte sich vielleicht überlegen, ob sich ohne Elisabeth nicht ganz gut leben ließe, erledigte dann diese Variante, und man entschied sich doch für Kohlendioxid. Woher wußte Doris von diesen makabren Intimitäten? Sie fanden sich auf Papier, von Peters Hand –ein schreckliches Alibi, mit dem er hinterlassen wollte, wohin ihn seine Frau getrieben hatte. Doris aber stellte trocken fest, die beiden hätten nur gekriegt, was sie gebraucht hätten. Die geerbte Wohnung hatte sie bereits verkauft und das Geld in eine Ausbildung als Notfallpsychologin gesteckt, für die sie sich noch nicht zu alt fühlte und wahrlich
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