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Sax

Sax

Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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Scale versunken, schien wieder steigen zu wollen, als ein Schlag des schwingenden Schiffes seine schwache Befestigung losriß, und unsere Hoffnung, mit dem flüssigen Silber, zur Erde rann.
    Am Donnerstag, dem 10. Februar 1994, kam Hubert Achermann kurz vor fünf Uhr – es begann zu dämmern – in ein menschenleeres Haus. Es war Rätseltag, zu dem noch keiner von beiden unentschuldigt abgeblieben war, und die Zeitungen lagen auch bereit, aber Jacques ließ sich nicht blicken, und auch Marybel war nicht an ihrem Arbeitsplatz; Hubert beschloß, einstweilen in die Kuppel vorzugehen und die Türen offenzulassen. Er hatte sich kaum gesetzt, da begannen unten die Tasten des Rechners zu klappern; Rufen schickte sich nicht, also stieg Hubert ab und fand das Büro immer noch leer; das Klappern war verstummt. Marybel! rief er; keine Antwort. Aber ihm schien, die Ordnung der Papiere auf ihrem Tisch habe sich verändert. Zögernd ging er wieder die Treppen hinauf und war noch nicht auf der obersten Stufe, da ließ sich das Tastenklappern von unten neuerdings vernehmen, lauter diesmal; er kehrte um und flog förmlich ins Büro zurück, wo wieder kein Laut mehr zu hören war, und erst recht niemand zu sehen; dafür lagen die Bücher auf dem Pult wirr durcheinander, und eine Anzahl Blätter war über den Boden verstreut, als habe sie ein Windstoß vom Pult gefegt. Aber es war kein Fenster offen, und das Geräusch war verstummt; allerdings zeigte der Bildschirm des Computers, der zuvor dunkel gewesen war, Marybels Desktop, als habe gerade noch jemand davorgesessen. Er musterte die Überfülle von Icons darauf; dann begann er die Blätter einzusammeln. Sie waren dünn, halb durchsichtig, und offensichtlich mit derselben Maschine geschrieben wie Horners Diktat in seinem Safe, aber der Titel lautete:«Emmy von N. Studie einer Neurose von Professor Sigmund Freud».
    Die Blätter waren numeriert, und nachdem er sie erst nur hatte ordnen wollen, begann er zu lesen. «
Frau Emmy v. N., 40 Jahre, aus Livland
». Achermann wußte, daß Freud seine Hysteriepatientin Fanny Moser von Warth nach Livland versetzt hatte, vielleicht hatte sie ihm selbst einen Wink gegeben; das Baltikum hatte das Junkerhafte, das sie suchte. Was hatte Fanny, die Jüngere, veranlaßt, den Neurosebericht ihrer Mutter abzutippen? Suchte sie in diesem Zerrspiegel das eigene Jugendgesicht, sammelte sie Material gegen die Person, die eine tiefe Spur in ihrer Kindheit gegraben und dann verwischt und geleugnet hatte – ein doppeltes Verbrechen? Hubert Achermann las in Freuds Sprache, daß diese Mutter
eine vermögende und noch junge Witwe gewesen
war.
Ihr Mann war ausgerechnet zum Zeitpunkt gestorben, als sie mit der zweiten Tochter niederkam, worauf sie gegen das Neugeborene äußerst unwirsch geworden sei
. Sie sprach von ihr
wie von jemandem, dessen man überdrüssig geworden ist.
Danach habe das Kind so spät gehen und sprechen gelernt,
daß man es lange für idiotisch hielt
, auch sei es zuerst am linken Bein gelähmt gewesen und habe
Visionen gehabt
, und sie habe
durch drei Jahre das Kind gehaßt, weil sie sich immer gesagt habe, sie hätte den Mann gesundpflegen können, wenn sie nicht des Kindes wegen zu Bette gelegen hätte. Ich habe gesagt
, las Achermann,
daß ich die Kleine nicht geliebt habe. Ich muß aber hinzufügen, daß man es an meinem Benehmen nicht gemerkt hat. Ich habe alles getan, was notwendig war. Ich mache mir jetzt noch Vorwürfe, daß ich die Ältere lieber habe.
Es ist aber diese Ältere, die gleichfalls «Emmy» heißt, in deren Gesellschaft sie den Seelenarzt in Wien aufgesucht hat. Beide kuren gemeinsam, die jüngere Emmy hat Menstruationsbeschwerden, die ältere leidet unter
Tierdelirien
, Horrorphantasien, Ekelanfällen, Willenshemmungen,
Stürmen im Kopf
, in denen sie die Tochter und sich selbst verwechselt, mit verzerrten Zügen auf dem Diwan liegt und in unaufhörlicher Unruhe des ganzen Körpers, die Hände immer wieder gegen die Stirn gepreßt,
Emmy ruft
, den gemeinsamen Namen.
Einem unsererangesehensten Gynäkologen gelingt es immerhin, den Uterus der Tochter durch Massage aufzurichten, so daß sie mehrere Monate frei von Beschwerden blieb
. Doch die Mutter läßt diese Kur nicht gelten, gibt den Ärzten sogar die Schuld an der Krankheit des Kindes,
weil wir ihr das schwere Leiden der Kleinen als leicht dargestellt
. Die Damen reisen ab, aber Freud besucht die Patientin auf ihrem Gut, sie muß ihm wichtig sein, da er den weiten

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