Sax
gekräuselt. Der Mönch aber hat sich die Kapuze über den Kopf gezogen. Er steht vor dem Bett, seine braune Kutte hat sich geöffnet, und zwischen den Beinen ist ein roter Stift zu sehen. Aber die Seite wendet sich ganz schnell. Und siehe da: auf der nächsten Seite kniet er schon voller Andacht zwischen den Beinen des Weibleins, die jetzt offen ausgebreitet sind, und dazwischen sucht er eine Stelle, die sein Stift beschreiben kann. RE heißt wenden, immer schneller. Und als das Blattsegel das nächste Mal umschlägt, zieht ein saugender Strudel den Betrachter ins Buch hinein wie in ein schlenkerndes Boot, und er fühlt, wie er zu schreiben beginnt. Das Wasser schlägt ihm entgegen, aber nun schreibt er ins Wasser. Sein Stift geht unter, da schwimmt er wie ein Fisch, doch er schreibt und schreibt.
Wie Hubert Achermann nach Hause gekommen ist, weiß er nicht mehr. Aber wieder zu sich selbst gekommen ist er in der Kuppel. Da wußte er, die Frau war seine Frau, Adriana von Brederode.
16
1993. Sturmzeichen
Im Herbst 1993 hatte die große Linde weichen müssen. Ernsthaft bemerkt wurde ihr Fehlen nur von Hubert Achermann. Jacques war mit seinen Familien beschäftigt, namentlich mit dem Aufbau Florians zum Mann, und zeigte sich nur noch zum Lösen des Kreuzworträtsels. Marybel war im Haus, aber sie lebte im Netz, wo sich Raum und Zeit verflüchtigten. Nur ihre Gewohnheit, hinter Jacques und Hubert aufzuräumen, verleitete sie zu längeren Aufenthalten in der Kuppel. Seit der Baum weg war, entfernte sich auch Achermann viel häufiger, und wer sollte nach dem Rechten sehen, wenn nicht die Frau des Hauses. So saß sie oft stundenlang in einem von Sidonies schwarzen Sesseln.
Peter Leus Ende hatte ihr zu schaffen gemacht. Um sie an seinem Elend nicht schuldig sprechen zu müssen, hatte Leu es vorgezogen, sie überhaupt nicht mehr zu sprechen, Haus und Geschäft so weit wie nur möglich zu fliehen und sich lieber an seine Peinigerin zu klammern. Jede Minute, die er gewissermaßen unentschuldigt abwesend war, begleitete er mit Furcht und Zittern. Den Kontakt mit Marybel behandelte er jetzt selbst als das Verbrechen, das seine Frau darin sah. Wie es unter diesen Umständen um sein Geschäft stand, kann man sich denken. Die vorübergehende Blüte war in wenigen Monaten geknickt. 1985 beschloß er, in einer Art von selbstmörderischem Trotz, nicht nur das Geschäft, sondern gleich das Haus zu verkaufen. Er tat es hinter dem Rücken seiner Frau; es war sein letzter Anfall von verzweifelter Mannesehre. Vera war, mit Moritz’ Hilfe, im «Zinstragenden Sparhafen»untergekommen. Danach nahm das häusliche Unglück seinen Lauf.
Im übrigen hatten die Advokaten Peter Leus Verwandlung zum gejagten Wild zugesehen, ohne hilfreich eingreifen zu können. Am meisten waren Marybel die Hände gebunden. Sie gedachte den Wahnsinn nicht durch eigene Empfindlichkeit zu verlängern und verbrannte sich auch nicht mehr an einem Hoffnungslosen die Finger. Als Gesellschafterin der Stiftung mußte sie raten, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war. Zum Begräbnis des Unglückspaars war Leus Zwillingsschwester Doris aus Neuseeland angereist. Sie hatte dort als Nurse keineswegs das große Glück gemacht und dachte daran, wieder in der Schweiz Fuß zu fassen. Mit Marybel entwickelte sich eine Freundschaft, welche diese wie einen Freispruch empfand und die auch ihren Forschungen zustatten kam.
Auch zu Moritz’ «Korbflechtern» hatte sich ein freundschaftlicher Verkehr entwickelt – je besser man sie kennenlernte, desto weniger zweidimensional nahmen sie sich aus. Tim, der sommersprossige Wuschelkopf aus Oklahoma, hatte Marybel ins
Internet Relay Chat
-Netz eingeführt, in dem sie seither als «Fanny» umging und weiteren Anschluß suchte. Er hatte ein Profil Frau Dr. Fanny Mosers digital bearbeitet, bis es Marybel so ähnlich wie möglich sah. Das Original hing im Hause Schinz; Thomas’ Partnerinnen hatten dieser Frau zu gleichen. Auch Marybel hatte einmal in diese Reihe gehört. Nun unterwies sie Tim beim Scannen und Kolorieren. Samtkleid, Perlenkette und Medaillon blieben schwarzweiß, aber den Hintergrund färbte sie tannengrün, im Kontrast zur tiefen Blässe des Gesichts. Die virtuelle Fanny hatte das Gesicht einer klassischen Gemme mit ausgeprägter, feiner Nase und einem innigen Blick.
Ach, Caspar
, hatte Fannys Ansprache an Unbekannt gelautet,
heißt du wirklich Caspar mit C? Und hättest du Lust, den Südhimmel für mich zu besternen?
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