Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sax

Sax

Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
Vom Netzwerk:
Das Ölgemälde in der Mitte zeigte ihn lebend, unter der Perücke seiner Zeit, als Bonvivant in Jugendfrische. Aber das Bild war falsch, wie Diebold erklärte. Das fleischlose Phantom war alles, was von ihm noch leibte und lebte. Die wohlerhaltenen Zahnreihen im aufgerissenen Mundloch deuteten auf einen wölfischen Appetit. Doch die Wunde erschien nur noch als helle Zone, wie ein radierter Fleck, auf der schwarzen Schädelhaut.
    Achermann nippte gelegentlich an der himmelblauen Flüssigkeit, als Diebold fragte: Mögen Sie Pizokel? – Achermann hörte das Wort zum ersten Mal. Trotzdem hatten seine Kiefer zu mahlen begonnen. – Fühlen Sie sich imstande, fragte Diebold weiter, beim Transport dieser Handschrift behilflich zu sein? – Die Truhe, mit wachsfarbenem Pergament verkleidet, war kaum als Buch zu erkennen. Sie war so lang wie ein Kindersarg und mit Ecken und Kanten aus graviertem Eisen beschlagen. Diebold entriegelte das Schloß mit einem Schlüsselchen, das am untersten Silberknopf seiner Jacke angekettet war. Achermann war auf ein übermäßiges Gewicht gefaßt gewesen, aber als er es mit Diebold zu heben anfing, sprang es ihm beinahe in die Hände und ließ sich fast schwebend ins Wohnzimmer tragen und absetzen. Und als Achermann sich aufrichtete, sah er die Frau.
    Doch eigentlich sah er nur einen taubengrauen Fleck, der sich als hochgeschlossenes langärmliges Arbeitskleid entpuppte. Esreichte bis über die Knöchel; die nackten Füße sah er nur ganz kurz, wenn sie sich darunter hervorbewegten, während der Saum, wie eine Schleppe, auf dem Parkett knisterte. Auch das Kleid raschelte nicht wie Tuch, eher wie eine Baumkrone. Er hörte Falten schleifen, als streiche ein Bogen probeweise über die Saiten eines Cellos, aber was ihnen entstieg, war kein Ton, sondern die Form eines Körpers, der sich beim Hinsehen verwirrte, denn er schien jetzt Baum und Frau zugleich. Die Wurzeln waren beweglich wie ein Rock, der Stamm eine knappe Taille, die das nach unten weit ausgebreitete Netz raffte, um ein feinmaschig verästeltes Brustteil in die Höhe sprießen zu lassen. Es wurde von zuckender Leere gekrönt, in der man ein Gesicht zu suchen anfing, aber es war von Helligkeit getilgt, wie die Hitze über einer langen Straße flimmert. Das Kleid aber schwebte getragen am Tisch hin und her, entfernte sich immer wieder durch die hintere Tür, und die Gänge nahmen kein Ende. Er blickte in eine Landschaft tiefen Ernstes, und jetzt wurde sie doch zum Gesicht. Augen wie Kornblumen stiegen aus dem fahlen Weizengelb des Haars, das wie vor einem Gewitterhimmel leuchtete; dann sättigte es sich zum Ocker der nahen Ernte. An eine Stimme erinnerte er sich nicht, nur an ein Wort: Pizokel.
    Er erinnerte sich auch an Notschreie, die sich zu einem gepreßten Wimmern brachen, und dann hörte er Diebolds Baß sagen: der Hund muß hinaus. Ich gehe jetzt mit dem Hund.
    Eine Tür sank ins Schloß, und mit einem Schlag war es still. Plötzlich wurde die Luft blau wie Absinth, eine Nebelbank zog über kleine Landschaften, überall zitterten die Wimpern der Frau, und Achermann fielen weitere Verse zu:
    Chemins qui souvent n’ont
    Devant eux rien d’autre en face
    Que le pur espace
    Et la saison.
    Das nächste sind wieder Bilder, diesmal bunt. Er sitzt neben der Frau auf dem grünen Liegebett, während sie den Deckel der Buchtruhe öffnet. Sie blättert die Handschrift auf, mit beiden Händen.Mit beiden Armen legt sie die Seiten um, als wären es Segel. Was für Bilder!
    Da steigt ein kleiner glatzköpfiger Mönch die Leiter hoch. Man kann seine Tonsur strahlen sehen, denn ganz oben, auf gezähnter Zinne, erwartet ihn eine kleine Frau und hat sich schon so weit über die Zacken gebeugt, daß das blonde Haar dem Krönchen auf ihrem Kopf davonfließt, dem Aufsteiger entgegen. Die Gesichter bleiben leer. Die Frau trägt einen roten Mantel über dem blauen Kleid. Auf dem nächsten Bild hat sie den kleinen Mönch in ihren roten Mantel eingewickelt, denn sie stehen engverschlungen auf der Zinne. Noch ein Bild: nun müssen die beiden über eine Wendeltreppe in die kleine Kuppel darunter abgestiegen sein. Denn darin steht ein Lager, grün wie das Paradies, mit zwei Reihen winziger goldener Nägel dran. Das Weiblein hat sich auf das Lager gelegt, es ist schon nackig. Aber es faltet die Beine, deckt auch die Brüste mit beiden Händen zu und hat das Köpfchen weggedreht. Man sieht nur langes Haar davon- und auf den Fußboden laufen, von Wellen

Weitere Kostenlose Bücher