Sax
Auto blieb auf dem Mietplatz in der Tiefgarage, und er nahm die Straßenbahn Nr. 17 bis zur Endstation, wo ihn ein schwarzer Geländewagen erwartete und ins Oberland führte, auf Sträßchen, die im Winter ihren Namen nicht verdienten und auf denen der Vierradantrieb kein Luxus war. An diesem Ende der Welt hatte Tövet das «Fabrikli» gekauft, ein kleines Monument der frühen ländlichen Industrialisierung. Es war ein teilweise entkerntes Bauernhaus, dessen Erdgeschoß zur Web- oder Spinnstube umgerüstet worden war; jetzt war aus dem Raum eine Gastwirtschaft der besonderen Art geworden. Tövet stammte selbst aus einem Bauernhaus und hatte ein paar Semester Ökonomie studiert, aber zu diesem Milieu paßte sein blumenkindlicher Habitus wie die Faust aufs Auge, auch wenn es nicht seine Art war, die Faust zu ballen und Augen zu verletzen. Er galt als Hippie mit Gitarre, diese Verkleidung verbarg sein Bedürfnis nach einer soliden Lebensart, auch wenn sie mit der konventionellen nichts zu tun hatte: Regeln waren für ihn kein Gegensatz zur Selbstbestimmung, sondern Teil davon. Er hatte nach Reinholds Begräbnis «fremde Dienste» genommen, nämlich diejenigen einer Gesellschaft zur Entwicklung Lateinamerikas, und auf dem Hochland Boliviens eines ihrer Projekte beaufsichtigt. Nach dem Tod seines Vaters kehrte er zurück und investierte die Erbschaft in das abgelegene Anwesen, das zur Not von der eigenen Landwirtschaft leben konnte. Das Fabriklein hatte sich zum Asyl für Leute entwickelt, die andere als gestrandet betrachtet hätten, und meist taten sie es auch selbst. Tövet beherbergte sie mit der Auflage, daß für ihren Aufenthalt eine Frist vereinbart wurde. Längstens nach zwei Jahren mußten sie das «Fabrikli» wieder verlassen, nachdem sie aus seiner Gemeinschaft für sich das Beste daraus gemacht hatten – oder eben nicht. Diese Trennungsklausel, die auch galt, wenn man sich gut verstand und gedeihlich zusammenarbeitete, bildete eine Versicherung gegen jede selbstgefälligeErschlaffung guter Vorsätze. Es war die Klinge, über die einer springen mußte, wollte er sich nicht immer weiter schneiden, und die manchem zum ersten Mal beibrachte, was Springen heißt. Nüchtern besehen, war Tövets «Fabrikli» eine strenge Schule, doch lag es an ihm, daß sie einem nie als solche bewußt wurde, sondern als haltbarer Vorsatz, nur von Tag zu Tag zu leben, doch mit aller Achtsamkeit und unter einem neuen Namen, den man für sich selbst gewählt hatte. Davon wurde man nicht plötzlich ein anderer Mensch, aber man begegnete in sich der Möglichkeit, sich anders zu verhalten, und zwar in jedem Augenblick. Zugleich war dieses fragile Andere in der eigenen Haut am besten geschützt, wenn es nicht als Geheimnis, sondern als Selbstverständlichkeit behandelt wurde. Tövet hätte Albrecht heißen können, denn er glich einem bekannten Selbstbildnis Dürers, nur daß sein schulterlanges Haar nicht lockig war und sein Gesicht bartlos, doch die Augen blickten mit demselben kühlen Ernst.
Zu den Lebenslehrlingen im «Fabrikli» gehörten auch sogenannte Zaungäste, vorzugsweise ehemalige Linke in festen, oft gehobenen Berufen, die, in einer Krise, aber oft auch ganz ohne Notfall, bei Tövet unterkamen. Sie nahmen an Haus- und Feldarbeit, abends am Gespräch sowie am Singen und Musizieren teil, was eine Spezialität des «Fabrikli» war, ebenso, daß man zwischen Sonn- und Werktag nicht unterschied. Hubert gehörte neuerdings öfter zu den Zaungästen, denn diese durften nach Bedarf wiederkommen. Krise ist normal, gehörte zu den Maximen von Tövets Hausordnung, aber in seiner Nähe ergab sich wie von selbst die kleine Rücksicht, daß man das Normale nicht übertrieb.
Zum Ehepakt mit Sidonie gehörte die Klausel, daß sie, wenn ihre Termine abgestimmt waren, einander nicht nachfragten, am wenigsten mit Handy, gegen das Achermann allergisch war. Er hatte sich vorgenommen, diesen Freitagabend im «Fabrikli» vorbeizukommen, nicht weil er selbst ein Notfall war, sondern weil ihn Tövet beschäftigte. Letztes Mal war sein Gang gehemmt gewesen, beim Gespräch war er öfters angestoßen und hatte sich, statt amSingen teilzunehmen, früh zurückgezogen. Es war sehr ungewohnt, sich um Tövet Sorgen zu machen. Doch zuerst stand Hubert der Denkmalpfleger bevor. Es wollte nicht gelingen, sich mit der Zeitung abzulenken. Die NATO drohte den Serben mit Luftangriffen, wenn sie ihre Geschütze nicht von Sarajevo zurückzogen. Eine gute
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