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Sax

Sax

Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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diesem Fall möchte ich sie gar nicht gesehen haben.
    Dann hat auch Ihr Besuch besser nicht stattgefunden, sagte Achermann, und ich habe Ihre Warnung nicht gehört.
    Der hagere Mann war noch fahler geworden.
    Das wäre Ihr Risiko, das sage ich nicht nur dem Juristen Achermann.
    Aber der Jurist antwortet Ihnen, daß uns die Behörde über ein Risiko, das ihr bekannt war, hätte informieren müssen. Diese Unterlassung würde man Ihnen zur Last legen. Ganz offensichtlich wissen Sie schon länger, daß ich unbefugt in meine eigene Sternwarte eingedrungen bin. Ihr Stillschweigen dazu kann man Ihnen notfalls als Begünstigung auslegen oder gar als Hehlerei.
    Die kleinen Augen musterten ihn mit einer Mischung aus Bosheit und Respekt. – Fehlt nur noch, daß Sie meinen guten Rat eine Erpressung nennen.
    Dahin wollen wir es gar nicht erst kommen lassen. Vergessen wir dieses Gespräch.
    Welches Gespräch? fragte Schuppisser. – Nur etwas sage ich noch zur Ehre Horners. Sie können es auch gleich vergessen. Er war Physiker. Ich glaube nicht, daß er sich über die Festigkeit seiner Konstruktion Illusionen gemacht hat. Dann hätte er sie nicht in einen verfallenen Brunnen setzen dürfen. Trotzdem glaube ich, es war ihm ernst mit dem Bau. Wenn es keine Sternwarte werden durfte:
aussehen
sollte es wie eine.
    Und was war es wirklich?
    Ein Innenraum, der sich auf seine Zeit als Seemann öffnete und den niemand betreten durfte als er selbst.
    Warum nagelte er ihn dann zu?
    Aus Scham, denke ich. Er genierte sich, daß er sich seinen größten Wunsch erfüllte. Das durfte er selbst nicht wissen. Daran ist er gestorben. An dem, wofür Menschen gelebt haben, sterben sie auch. – Aber wenn seine Beobachtungssäule
schwamm
… dann war sie ein Mast, Herr Achermann. Er
sollte
sich bewegen! Es war Horners Trick, die allzu feste Erde Münsterburgs der bewegten See anzunähern. Wasser bleibt Wasser, und ein Brunnen ohne Boden ist besser als nichts. Mit seiner Kuppel wollte er untergehen, Herr Doktor. – Sie auch?
    Als Schuppisser gegangen war, kehrte Marybel an ihren Platz zurück und wartete umsonst auf den Bericht Achermanns. Er war unbemerkt weggefahren. Da wußte sie Bescheid.
    Lange hatte sie sich nicht mehr mit
Ach Caspar
unterhalten. Sie klickte seine Adresse an. Aber er hatte nur einen philosophischen Text ins Netz gestellt. Sie las «Betreten für Unbefugte verboten».
    Zeit ist nichts, was vergeht; was vergeht, ist nicht Zeit, sondern wir, und mit uns alle Kreatur. Von der Veranstaltung, in der wir uns befinden, fehlen uns die Begriffe so sehr, daß wir schon die Ahnung unseres Nichtwissens mit dem Wort Religion bezeichnen, als wären wir dann irgendwo zuverlässig angebunden. Aber Religion ist nur der Strick, an dem Kälber zur Schlachtbank geführt werden, oder das Seil, an dem sich der Schlächter am Ende aufhängt. Wir sollten es fassen können, daß unser raumzeitliches Gefäß ein Paradoxon ist. Es ist zugleich – vielleicht nicht gleichzeitig – so weit offen wie das Universum, und so geschlossen wie eine Urne. Bestimmte Eigenschaften dieses vermeintlichen Innenraums messen wir zeitlich oder zeitförmig, um zu verschleiern, daß es sich nur um Kategorien unseres Vergehens handelt. In unserer unbegreiflichen Nische des Universums suchen wir Inseln, wo wir dem, was die Zeit
ohne uns
wäre, näher zu sein glauben. Wir tun Örter auf, wo die Zeit entweder gar nicht vergehen soll (wie wir vergehen), oder eine Schichtung erkennen läßt, die von einer andern Dynamik bestimmt wird als der des Vergehens – wo etwa Rückläufigkeit herrschen soll, Wiederkehr, oder Stillstand, und womöglich Alles in Einem. Um dem einfältigen Verlauf zu entgehen, den wir, als Vergehende, der Zeit unterschieben, sind Menschen auf Säulen geklettert, haben sich in Höhlen vergraben oder Sternwarten gebaut, um der Sphäre, die sie überzeitlich oder zeitlos nennen, inmitten des Zeitbetriebs und Zeitvertreibs näher zu sein. Denn natürlich möchte sich niemand etwas, was ohnehin, und immer zu rasch vergeht, auch noch mutwillig
vertreiben.
    Und doch ist dann Zeitvertreib wiederum die einzige Form, in der Menschen den Skandal ihrer Vergänglichkeit aushalten, und gerade Langeweile betrachten sie als das Schlimmste, was ihnen passieren kann. Der manifeste Unsinn dieser Flucht scheint für handfeste Leute niemals auf der Hand zuliegen. Es kommt ihnen nie in den Sinn, gerade das zu kultivieren, was sie Langeweile nennen.
    Verwirrend ist nur, daß uns,

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