Sax
wenn wir die Materie, aus der wir selbst bestehen, durch Mikroskope betrachten, deren Auflösung denjenigen der besten Teleskope entspricht, im Kleinsten wie im Größten dasselbe Phänomen unaufhaltsamer Unendlichkeit begegnet. Jede Körperzelle, jedes Atom, ja jedes subatomare Teilchen ist für die geschärfte Wahrnehmung vom gleichen Stoff wie die Lichtjahre entfernten Himmelskörper, ein unerschöpflicher Abgrund, dem keine Grenzen gesetzt sind, am wenigsten die aus unserer eigenen Vergänglichkeit geschöpften von Anfang und Ende. Aber diese Grenzen liegen nur in unserer Wahrnehmung und ihren Werkzeugen, nicht in der Sache. Diese Sache (was immer sie sein mag) hält zu unserer Beobachtung nicht still, sondern je weiter wir, im Allergrößten wie im Allerkleinsten, in sie einzudringen glauben, desto mehr verändert sie sich.
Durch
diese Beobachtung? Das war die Entdeckung der Quantenphysik – mit der sie sich und uns vor einer fundamentaleren und allerdings ganz untröstlichen zu bewahren hoffte: es ist nicht erst unser Zugriff, der die Sache verändert: diese Sache gibt es nicht. Was wir für die Sache halten, ist ein Phantom. Was wir zu beobachten glauben, hört nicht unversehens auf, gegenständlich zu sein; es ist es nie gewesen und kann es nicht werden; es ist
von Haus
aus kein Objekt.
Wie um alles in der Welt wäre auch ein Universum dingfest zu machen, das sich im Zustand unaufhörlicher Expansion, ja Explosion befindet, aber «zugleich» – oder «einmal» – aus unendlich weniger als nichts entsprungen sein soll: nämlich einem Materie- oder Energiekern von unvorstellbarer Dichte; so daß also das unendlich Große mit einem Urknall aus dem unendlich Kleinen hervorgegangen wäre? Welche Gelegenheit, mit den Kategorien von Groß und Klein überhaupt aufzuräumen, da sie offenbar in der Veranstaltung, in der wir uns befinden, gar nichts zu suchen haben?
«Ach Caspar», mailte sie, sie wollen deine Sternwarte abreißen. Was soll ich tun?
Hat man denn nie seine Ruhe?
Rede, Herr, denn deine Magd höret.
Aber er schwieg. Er hatte keine Sprache mehr für sie.
18
1994. Jacques
Hubert Achermann hörte den Satz nun schon zum dritten Mal, um den seine Gedanken bisher im Wachtraum gekreist hatten, als sage er zwar etwas Unmögliches, doch nichts Neues. Wenn er blinzelte, sah er ein Topplicht in der Höhe schwanken. Oder tanzte sein Kopf auf den Wellen? Allmählich kam er zu sich, sah Moritz über sich gebeugt, dem Horner über die Schulter blickte. Seine eigenen Hände klammerten sich an die Reling.
Jacques ist gestorben, wiederholte er mechanisch. – Welche Zeit ist es denn?
Moritz blickte auf seine Uhr. Dann schüttelte er den Kopf und sagte: drei Uhr, das kann nicht sein. Draußen wird es schon hell.
Du hättest deine Uhr ausziehen müssen, sagte Hubert Achermann und stemmte sich an den Stahlstützen des Sessels hoch. – Wir waren eben noch in deinem Hotel.
Du warst kaum aus der Tür, da meldete sich Marybel aus der Notfallstation des Kantonsspitals. Jacques war eingeliefert worden, mit Herzstillstand.
Hat sie ihn eingeliefert?
Eine Filipina, in deren Armen er gestorben ist, übrigens in deiner Kutte. Die Damen waren als Nonnen verkleidet.
Hubert setzte sich wieder und schloß die Augen.
Du warst nicht zu erreichen, sagte Moritz, und jetzt können wir nichts mehr tun. Er ist von Frauen umgeben, wie zu Lebzeiten. Schlimm ist nur: sein Adoptivsohn wird heute operiert. Er soll ein Mann werden. Und wenn er aufwacht, sind nur noch Frauen da.Die beiden Frauen in Jacques’ Wohnung, seine sogenannte Task-Force.
Ich weiß nichts mehr von Jacques, sagte Hubert Achermann, dabei bin ich doch sein Testamentsvollstrecker. Wie er meiner.
Da kommt etwas auf dich zu. Fährst du ins Krankenhaus?
Nein, ich mache einen Spaziergang.
Es war sieben Uhr früh, als er das noch leere Haus verließ. Ein grauer Frühlingstag, auch das frische Grün wirkte gedeckt. Er kaufte Zigaretten; auf einer Bank am See zündete er sich eine an, die erste seit dem Abschied von Lüttich. «Schützen Sie Ihre Kinder – rauchen Sie nie in Ihrer Anwesenheit.» Jacques, gelegentlich Pfeifenraucher, hatte die Forderung auf seinem Tabakbeutel für erfüllbar gehalten. «Ich rauche nie in meiner Anwesenheit.»
Zuerst ging Achermann an den Ligusterweg und stand vor der Tür still, durch die Jacques diese Nacht hinausgetragen worden sein mußte. Er klingelte; Michelle öffnete mit roten Augen; sie erkannte ihn nicht mehr. Als er sich als
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