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Sax

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Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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Jacques’ Freund vorstellte, brachen die vier Frauen in lautes Weinen aus. Sie hatten auf der Kommode einen kleinen Altar aufgebaut. Am Kruzifix lehnte, von weißen Rosen gerahmt, Jacques’ Foto und lachte ihm faunisch entgegen; eine Amateuraufnahme, im Hintergrund war die Holzwand seines Ferienhauses zu sehen. Das Bild stand auf einer gefalteten braunen Wolldecke, in der Achermann seine Kutte erkannte. Tränenüberströmt und doch fast singend begann Michelle Jacques’ großes Herz zu loben; wie hätte man ahnen können, daß es so leidend gewesen sei! Bei jeder Nennung von Jacques’ Namen ging ein neues Aufstöhnen durch die Runde.
    Achermann stellte sich als Testamentsvollstrecker vor. Er werde dafür sorgen, daß die Frauen die Sicherheit, die ihnen Jacques gegeben habe, auch weiterhin nicht entbehren müßten. Da erlebte er, was Jacques als falschem Priester widerfahren war: die Frauen bedeckten seine Hand mit Küssen.
    Im «Eisernen Zeit» fand er Marybel an ihrem Arbeitsplatz schonrastlos tätig. Es zeigte sich, daß auch sie einen Letzten Willen Jacques’ besaß, aufgesetzt am Tag nach dem Einzugsfest, in dem er beschrieb, wie er begraben sein wollte; es war eine für ihn typische boshafte und makabre Liebeserklärung, der sie juristische Geltung beimaß. Achermann fürchtete, bei anderen Geliebten könnten weitere Szenarien zum Vorschein kommen, doch ließ er ihre Zuständigkeit gerne gelten, denn er war dankbar, wenn sie den Verkehr mit Behörden übernahm, auch mit den Verwaltern des Baumfriedhofs, in dem für Jacques ein Platz reserviert war. Es wird sein Fest, und du sprichst seine Lieblingsverse, bestimmte sie, und nachher feiern wir im «Schafsberg» weiter. Die Todesanzeige enthielt nur Jacques’ Namen, seine Lebensdaten und den Satz:
Er bleibt uns der Nächste. Für seine Freunde: Anne Marie Kohlbrenner, Moritz Asser und Hubert Achermann.
Die Beisetzung sollte «im engsten Kreis bereits stattgefunden» haben, wenn die Anzeige erschien.
    Darüber, wen sie zum «engsten Kreis» rechnete, wollte sich Marybel noch nicht äußern. Es war acht Uhr morgens. Achermann nahm sich vor, Tschirky in seiner Klinik zu besuchen, und vielleicht auch den frisch operierten Florian. Er wollte Jacques nicht tot sehen. Aber er hatte die Pflicht, sich um seine lebende Hinterlassenschaft zu kümmern.
    Jacques hatte ihn in sein Leben als Ziehvater Florians nicht eingeweiht, ebensowenig kannte Jacques Huberts Leben auf dem «Gugger». Der Mond ihrer Freundschaft hatte eine abgewandte Seite, und vielleicht war sein Schein darum blasser geworden, denn man kann einander auch durch Verschweigen täuschen. Jacques berichtete unverändert über sein Liebesleben, aber Hubert entnahm vielen Zeichen, daß ihm seine sozialen Errungenschaften wichtiger geworden waren. Die «Task-Force», die sich um das Projekt von Florians Geschlechtsumwandlung geschart hatte, umfaßte, neben Dr. Tschirky und Jacques selbst, seine Mieterinnen Daniela und Deirdre, aber auch Michelle, und bildete etwas wie eine kulturübergreifende Familie, in die Ernst und Respekt eingezogen waren, während Jacques früher besonders für das lesbische Paar nurden Spott des gerupften Gockels übrig gehabt hatte. Hubert war als Türöffner Tschirkys unentbehrlich gewesen; jetzt gehörte er nicht mehr dazu. Aber nun war Jacques tot, und Hubert fühlte sich verpflichtet, Tschirky zu besuchen und die Lage mit ihm zu besprechen.
    Er mußte im Ordinationszimmer warten, bis Tschirky auftauchte, in Eile. Er war hochgewachsen, Brillenträger mit immer noch blonder Tonsur und keineswegs kleinen Händen, die er geschmeidig knetete wie ein Pianist. Bei der Nennung Jacques’ hatte sich seine Miene pflichtschuldig verdunkelt. Früher starben die Mütter an einer Geburt, sagte er, und jetzt die Väter. Gestern noch saß Jacques an Florians Bett, und weißt du, was er mit ihm getan hat?
Gebetet
. Und dann geht er hin und vögelt sich die Seele aus dem Leib. Mit seinem koronaren Status. Als hätte er’s darauf angelegt. Aber Tschirkys Ton kehrte gleich zu professioneller Lockerheit zurück. Er hatte die nächste transsexuelle Operation, diesmal M-F, vergleichsweise ein Kinderspiel. Jemanden zum Mann aufzubauen war heikler. Als sich Hubert über Einzelheiten nicht im Bilde zeigte, bekam er in aller Eile das Nötigste zu hören; so eilig war Tschirky nie, daß er am Lob seiner Kunst etwas versäumte. Hinter seinem Pult standen zwei lebensgroße Puppen, deren Inneres man ausfahren

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