Sax
träumen durften, darauf zu bauen. Denn wer nie im Leben Seeblick haben wird, kann immernoch die Aussicht wählen, die er seinen Enkeln wünscht. Wer keine Chance hat, wählt nicht die Chancenlosen, sondern diejenigen, die sie gepackt haben. Auch auf das, was man nicht hat, will man stolz sein, und diesem Stolz hat die Vaterlandspartei eine politische Heimat zu bieten. Sie stattet unverdient Arme mit dem Verdienst des Patriotismus aus und macht sie zu Eidgenossen der verdientermaßen Reichen. Wer sich keiner Standortgunst erfreut, hat immer noch einen Standpunkt: den vaterländischen.
Sidonie hatte schon im ersten Schuljahr erlebt, was es bedeutete, der vaterländischen Sprache nicht mächtig zu sein. Damals wohnte sie im «Guga». Nun hatte sie aus dem Sprachfehler ein Kongreßzentrum gemacht und sich den Peiniger von einst als Verwalter gekauft. Und noch immer schien die Beweislast, ob das Flüchtlingskind zum Schweizervolk gehörte, unvermindert. Sie hatte Achermann engagiert und seine Deckung beansprucht, als sei sie ganz sicher, daß sie beide etwas Solideres verband als Liebe. Doch verstand sie den Eheschein nicht nur als Versicherungspapier. Er war auch eine Bürgschaft für fortgesetzte Unvernunft. Sie hatte sich selbst als «Wundertüte» bezeichnet. Seit Sidonie als Schauspielerin gescheitert war, probte sie die Rolle ihres Lebens:
Ich verlange, daß es mich gibt
.
Die Platanen der Einfahrt standen noch kahl, aber die beginnende Dämmerung schien die Luft noch durchsichtiger zu machen. Es war nicht zu entscheiden, ob die englischen Gaslaternen auf den Torpfosten schon brannten oder im Abendschein leuchteten. Näherte man sich dem «Gugger» von der Bergseite, schien er auf hoher Küste unmittelbar am Meer zu liegen. Vor dem Kongreßzentrum, dessen halbes Glasdach wie Kristall schimmerte, lag ein Blumenrondell ganz in Weiß, Narzissen, Hyazinthen, Anemonen und Schneeglöckchen in konzentrischen Kreisen. Kein Mensch war zu sehen, aber Achermann wußte, daß seine Ankunft von den Kameras registriert wurde. Er parkte den Jaguar neben dem Offroader der Verwalterin; ein paar Meter entfernt stand ein dunkelblauer BMW. Der Chauffeur von Schieß hatte das Innenlicht eingeschaltet und las einen Comic.
Achermann stieg aus; der vertraute Schmerz war wieder da. Im Schongang bewegte er sich zur Seitentür des Riegelbaus, durch die man in den tiefer gelegenen Weinkeller gelangte. Schon von weitem hörte er Sidonies beherrschte Stimme im Wechsel mit der bald grollend, bald wehleidig intonierenden des Gastes im Schaffhauser Dialekt. Auf dem letzten Treppenabsatz war der Sitzplatz am Kamin noch nicht einzusehen, wohl aber der größere Teil des Gewölbes, das durch einen einzigen weißgeschlämmten Bogen aufgefangen wurde. Der Fußboden war aus demselben geschwärzten Backstein, aus dem auch die Aufbauten der Bar gebildet waren. Zur Seeseite hin lag das große Tor, durch das früher Lesegut hereingeschafft worden war. Jetzt diente die Trotte nur noch der Dekoration, wie die raumhohen Fässer an der Wand, die Bottiche, Hucken, Körbe und Winzermesser. Auf dem Boden lagen, zum Kleeblatt geordnet, drei Bärenfelle und streckten ihre bewehrten Tatzen. Der Raum waberte im Schein des noch unsichtbaren Kaminfeuers, außerdem flackerten reihenweise Kerzen.
Knistern und Knacken übertönten Achermanns Eintritt in den Zuschauerraum von Sidonies Kellertheater, das auch schon diesem Zweck gedient hatte. Jetzt war es der Kamin, der mit seinem Rahmen aus monolithischen Granitbalken einen Guckkasten für das Schauspiel des Feuers bildete. Die Steinbrücke, welche die Feuerstelle rechtwinklig in den Saal hinaus verlängerte, war ein mit Gläsern und Naschwerk gedeckter Tisch. Er trennte Sidonie und Schieß, die in schwarzen Corbusier-Sesseln saßen; ein Dutzend ihresgleichen stand zum Hufeisen geordnet vor einem Flip-chart, denn der Weinkeller wurde auch als Seminarraum gebraucht. Sidonies Haltung passte zum Design der knappen Sitzmaschine, während die hohen Armstützen für Schieß’ Gestikulation erkennbar hinderlich waren.
Er rappelte sich halb aus dem Sitz. Herr Doktor! schnaubte er mit kurzem Lachen. – Läuft das Geschäft?
Achermann reichte ihm die Hand und küßte Sidonies Wangen.
Hast du schon gegessen? fragte sie. – Wie geht’s dem Bein?
Achermann setzte sich, halb im Rücken seiner Frau, auf die Kaminumrandung. – Das Bein geht, sagte er. Sidonie erklärte das postoperative Mißgeschick.
Ja, sagte Schieß, wenn
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