Sax
bekennende Lesbe geworden. Aber Mutter noch dazu und eine soziale Tante für alle Waisen der Welt, nur antifaschistisch mußten sie sein! Sie hätte nämlich schon bei der Geburt ein Bub sein sollen. Ihre Mutter hätte dem Heinrich, als er im Sterben lag, gern einen neuen Stammhalter untergejubelt, um die erste Familie abzuhalftern. Daß es eine solche überhaupt gab, hat sie ihren Kindern unterschlagen. Für die siebzehnjährige Fanny war es ein Schock, als sie erfuhr, es gebe da noch ältere Halbgeschwister. Dabei waren die auch nicht von Pappe. Henri, der richtige Stammhalter, tat seinem Vater den Gefallen nicht, ein Tunichtgut zu werden. Der wäre Ihr Typ, Herr Doktor! Früh aus dem Nest geworfen, hat er sich eins in den Wolken gebaut und ist ja immer noch weich genug gefallen. Hat meistens in Paris gelebt, und nicht nur als Bonvivant. Ist gereist, hat Zentralasien entdeckt, eine famose Sammlung von Kunstobjekten zusammengebracht und sie dem Berner Historischen Museum vermacht, auch den Ehrendoktor dafür bekommen. War auch ein Pionier wie der Vater, auf seine Art! Der alte Heinrich hätte locker zehn Familien ernährt, aber wäre es auf die Frauen angekommen, das Vermögen wäre in alle Windeverflogen, denn sie waren selbst Windhühner und haben nichts als Windeier gelegt. Zum Glück gab es noch ein paar Männer, ich zähle mich dazu, die wußten, wie man für Heinrich Mosers Erbschaft Sorge trägt. Wir haben wieder etwas daraus gemacht, Herr Achermann. Gehen Sie mal nach Charlottenfels! Das ist jetzt ein Bildungszentrum! Unter den originalen Kronleuchtern unterrichten wir junge Landwirte, damit sie bei der Stange bleiben. Und was Heinrich Mosers Uhren angeht – sehen Sie das?
Schieß zog die linke Manschette zurück und klopfte auf seine Uhr, ein nostalgisch wirkendes Stück, länglich-rechteckig mit gerundeten Ecken und silbernen Kanten.
Eine HENRY FUMÉ von Moser, das Zifferblatt vollständig aus Palladium hergestellt – Palladium! Gold ist Blech dagegen, mit Verlaub. Tonneau-Form, das klassische Understatement! Wer etwas von Innovation versteht, der weiß, was in der Mechanik steckt. Zwei gegeneinanderschwingende Spiralfedern zur Ausschaltung des Schwerpunktfehlers! Selbstkompensierend! Antimagnetisch! Die Moser-typische Taschenuhr-Sekunde, Mosers Originalverzahnung, durchgehärtete Lagerzapfen im gesamten Räderwerk. Echte Kegelräder im Aufzugssystem. Dezent gewölbtes Saphirglas und Saphirsichtboden. Die Schließe wieder massives Palladium. Das Meisterstück der Moser-Gruppe.
Schieß’ Stimme hatte etwas Singendes angenommen, sein Knöchel pochte unausgesetzt auf die Uhr. Seine Augen schwammen in Erschütterung. Er räusperte sich, und als er wieder zu sich selbst kam, sah er Achermann herausfordernd in die Augen.
Heinrich Moser braucht nicht zu spuken. Er lebt. Wir haben seine Firma wiederbegründet – in diesem Jahrhundert, fürs nächste Jahrtausend. Wenn Sie schon mit Toten prahlen – so geht man mit ihrer Erbschaft um, Herr Doktor. Diese Uhr wurde letztes Jahr zur «Montre de l’Année» gewählt! Ich schenke sie Ihnen.
Er hatte sich die Uhr vom Handgelenk genestelt; Achermann blickte ins Feuer.
Ich brauche keine Uhr, sagte er.
Nachdem sie Schieß noch einige Sekunden in der Luft hatte baumeln lassen, band er sie sich wieder ums Gelenk. – Beneidenswert, sagte er dann, aber wie Sie wünschen.
Was hat ein Unternehmer wie Sie gegen Europa? fragte Achermann.
Ich bin Europäer, Herr Achermann, ich bin nicht gegen Europa. Aber Europa ist nicht die EU. Die Welt ist groß, die EU ist klein. Dagegen ist die Schweiz immer noch eine Welt.
Darum haben Sie vorgeschlagen, daß die EU der Schweiz beitreten soll.
Schieß lachte wie ein Wolf. – Heute zöge ich das Angebot zurück. Die vergrößerte EU hat die Chance verpaßt, der Schweiz ähnlicher zu werden.
Beitrittsfähig zu sein, um nicht beitreten zu müssen, sagte Achermann.
Das war nicht meine Parole, sagte Schieß. – So reden Kuhhändler und Schlaumeier. Wir
müssen
gar nichts, und die einzige Fähigkeit, die wir beweisen müssen, ist diejenige Heinrich Mosers: draußen tüchtig genug sein, um drinnen einen Damm bauen zu können. Sidonie hat Krieg hautnah erlebt, das Elend, die Flucht. Sie weiß, was ein Vaterland bedeutet. Sie sind kein Politiker, Herr Achermann. Was ich jetzt sage, ist rein hypothetisch. Aber nehmen wir an, es bliebe uns eines Tages nichts übrig, als in die EU einzutreten. Glauben Sie, Ihre Leute könnten uns
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