Sax
nicht, wenn man mir droht.
Wie sollte ich Ihnen drohen, sind Sie doch der einzige Mensch, den ich habe.
Er ließ sich auf ein Knie nieder, nahm den Hut ab und beugte ein gänzlich kahles Haupt. Es war noch immer auf der Höhe von Achermanns Brust. Dieser forschte unwillkürlich nach einer Schädelwunde und fühlte sich tief geniert.
Stehen Sie auf, in Gottes Namen, sagte er. Als sich Diebold wieder erhoben hatte, behielt er den Hut in der Hand.
Das ging mir zu schnell, Herr Diebold, und ich fühle mich noch unpäßlich.
Sie sind ein Erblasser, sagte Diebold und zeigte seine lückenhaften Zähne. – Sie sind schon ziemlich erblaßt.
Das waren Jacques’ Witzchen, sagte Achermann, machen Sie Ihre eigenen. Wenn ich soweit bin, melde ich mich per Mail.
Das heißt: gar nicht, sagte Diebold, oder durch Marybel, das Luder. Sie kennt meine Adresse nur zu gut. Ich maile ihr.
Ihre Akten nehmen Sie bitte wieder mit, Ihr Lebenswerk auch. Und die Puppen.
Diebold gehorchte schweigend, wobei er den Plan mit aller Vorsicht zusammenfaltete; dabei fielen Achermann seine dürren Hände auf. Waren sie nicht eben noch fleischig gewesen?
Wenigstens zum Abschied könnten Sie mir die Hand reichen, sagte Diebold.
Achermann tat es und bedauerte es sofort. Die Hand war eiskalt, und seine eigene wurde es auch, kaum hatte sie den Druck erwidert.Der Gast setzte den Hut auf und wandte sich zum Gehen. Achermann lauschte dem genagelten Schritt auf der Treppe nach, doch er hörte die Haustür nicht ins Schloß fallen. Plötzlich beschäftigte ihn die Vorstellung, daß der Mann sich im Haus versteckte. Er hätte ihn geleiten sollen.
Er ergriff den Silberstift, um die fehlenden Buchstaben ins Rätsel einzutragen. Aber der Stift schrieb nicht mehr. Es war keine Mine darin.
Sein Bein schmerzte, und erst jetzt fiel ihm auf, daß er es die ganze Zeit nicht gespürt hatte. Er blickte auf das Chronometer. Es zeigte zehn Minuten nach fünf. Die Zeit war außer Rand und Band. Dabei tickte das Uhrwerk ordnungsgemäß.
Er zog sich an, verschloß alle Türen hinter sich und stieg mühsam in den zweiten Stock hinunter. Hermann saß an seinem Tresen vor dem Computer.
Schon fertig? fragte er überrascht. – Nicht mal zehn Minuten. Und angezogen bist du auch schon.
Wir erwarten noch Besuch. Du hast nicht zufällig jemanden hinauf- oder hinuntergehen sehen?
Nein, ich bin ja selbst eben heruntergekommen. Erwartest du noch jemanden?
Eigentlich nicht, sagte Achermann. – Bis morgen dann. – Er reichte Hermann die Hand, die dieser sogleich wieder losließ. – Was ist mit dir? fragte er.
Was soll sein?
Eiskalt, sagte Hermann.
Ach was, sagte Achermann, es war nur ein wenig kühl oben. – Aber Hermann ließ seine Augen nicht los. – Bist du gefallen? fragte er. – Was ist mit deinem Gesicht passiert?
Du siehst Gespenster, Hermann, lächelte Achermann und wandte sich zum Gehen. Unterwegs fiel ihm auf: er ging ganz mühelos. Das Trainingsgerät war doch für etwas gut.
21
März 2010. Schieß
Von drinnen nach draußen war ein harter Schnitt. Zum Glück zeichnete ihn der immer noch helle Märzabend weicher, durch den Achermann auf der Seestraße südwärts fuhr. Daß er wieder zu sich selbst kam, wäre zuviel behauptet gewesen; aber allmählich stellte sich das Selbst wieder ein, mit dem er auf dem «Gugger» bisher durchgekommen war.
Bald nach dem Ortsschild Überseen bog er nach links ab und begann den Einstieg in die Hügel. Er kurvte durch den Hang, der einmal der größte Rebberg des Ufers gewesen, jetzt aber eine versteinerte Welle geworden war. Das zyklopische Mauerwerk trug artigen Blumenschmuck, die Terrassenhäuser drängelten sich um das größte Stück des begehrten Seeblicks zu Füßen des einzelnen Hauses auf der Höhe, das ihn ungeteilt besaß. Es erhob sich in die noch helle Dämmerung wie ein Schiff, und die Giebelfenster leuchteten im letzten Abendrot. Hier oben war dem Flüchtlingskind die Fremde einmal als Paradies begegnet. Von hier aus hatte es die Eroberung der Heimat begonnen, Schritt für Schritt. Und jetzt stand der größte bevor: Sidonie wollte in den Bundesrat.
Diese Absicht hatte sie auch ihm verschwiegen. Mit seinem Kollaps hatte er das Siegel gelüftet, denn er hatte ihre Termine durcheinandergebracht. Nun kam Schieß, um die Belastbarkeit des Ehemanns zu prüfen. Achermann verstand, wofür Schieß von seinen Parteigängern vergöttert wurde. Er machte den
Heimatboden
auch für Leute heilig, die nicht einmal davon
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