Sax
argwöhnischen Beobachtung; dafür gedachte er seines Sohnes Jacques kein einziges Mal. In gewissem Sinn stimmte Thomas Schinz’ Geschmack an erotischem Spuk jetzt mit demjenigen Maras überein, denn ihr Hobby waren Sterben und Tod.
Die Tochter des Realitätenmaklers war schon als Kind am liebsten auf den Wiener Zentralfriedhof gegangen, wo ihr die Realität im Konzentrat von Meistergräbern erschienen war, über denen die Nachtigallen sangen. Sie genoß aber auch die Kapuzinergruft, ohne zu schaudern; dafür hatte sie die medizinhistorische Sammlung der Universität. Aber das Größte war das Wiener Bestattungsmuseum, wo sie bei ihrem letzten Besuch bis ein Uhr an einer
Langen Nacht
teilgenommen hatte.
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Sargtest – Mutige können auch heuer probieren, wie es sich in einem Sarg liegt.
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Leichenwagen-Parade – Glaswägen und Fourgons nehmen Aufstellung im riesigen Innenhof der Bestattung Wien.
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Luftballons für die Toten – Leuchtende Botschaften entschweben in den nächtlichen Himmel.
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Papiersärglein – Zum Ausschneiden, Bemalen und Zusammensetzen für kleine und große Bastler.
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Totentanz – Der Bilderzyklus in der Museumsgalerie demonstriert die Macht des Todes über das menschliche Leben.
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Thanatopraxie – Informationen zur kosmetischen Konservierung für wenige Wochen bei «Six Feet Under» gang und gäbe – gibt ein Thanatopraktiker der Bestattung Wien.
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Funeral Gospel Singers – um 20, 22 und 24 Uhr singen sie Black-Music-Hits von «Amazing Grace» bis «Oh Happy Day».
Mara erzählte von Weckern, welche scheintot Begrabenen erlaubten, die Oberwelt von ihrer Lage in Kenntnis zu setzen, von Sitzsärgen für kurzatmige Tote und wiederverwendbaren Klappsärgen, und als sie sich Hubert besonders nahe fühlte, rückte sie ein Stilett heraus, das für den Herzstich verwendet wurde, um jeglichem Scheintod sicher vorzubeugen, und bot ihre Brust für einen Versuch an. Doch Hubert Achermann widerstand, denn aus der mehr als voll erblühten Rose wehte ihn Moderduft an – es konnte auch schon sein eigener sein. Da war die Geisterseherei des Rollstuhlfahrers im gestreiften Pyjama mit seinem Wahnsinnsgedächtnis vergleichsweise sauber. Nun saß er vor der verfehlten Liebe seines Lebens und konnte sich an ihrem Bröckeln nicht satt sehen. So hätte Jacques im hohen Alter aussehen können. Kein Wunder, daß er darauf verzichtet hatte, es zu erreichen.
Am 14. November stand Hubert Achermann vor Marybels Pult. Er trug einen Anzug aus ockerfarbenem Tweed mit einem diskret orangefarbenen Karomuster, dazu ein grünes Hemd mit offenemKragen; über seinem Arm hing ein schwarzer Regenmantel. Auch ohne Gepäck wirkte er reisefertig und wie ein Gentleman, der zu einer Jagd ins Hochland aufbricht. Sein Gesicht war schmal geworden, doch auffallend gerötet; auch das immer etwas hängende Lid des linken Auges stand weiter offen als sonst.
Wenn es wahr ist, daß ich eine Tochter habe, möchte ich jetzt zu ihr.
Das Haus hielt den Atem an. Es war still, wie es nur in Horners Kuppel gewesen war.
Ich treffe Diebold, wo er will. Maile ihm, bitte. Er antwortet sofort, wenn ich mich recht erinnere.
Das war einmal, Hubert. Heute könnte es dauern.
Dann gehe ich so lange aufs Dach.
Die Terrasse lag in Wind und Regen, als er gegen merklichen Druck die Tür aufstieß, und war leer, wie damals vor vierzig Jahren, als die Advokaten eingezogen waren. Die Pflanzenkisten und -töpfe waren verschwunden, auch das Geißblattdickicht, das den Holzturm verkleidet hatte. Nun starrte er nackt in den grauen Himmel und teilte die Flucht der Wolken, die von Westen nach Osten fuhren, ein eiliger Strom ohne Ufer. Achermann faßte den Mantel, den er sich übergezogen hatte, am Hals zusammen, gegen den Wind, der ihn mit Schauern besprühte, und kämpfte sich über die Planken ans Geländer vor. Er blickte noch einmal ins Geschiebe der Dächer hinunter; manchmal fuhren sie, und der Himmel stand still. Am Horizont blieb ein lichtes Band frei, in dem sich, wie auf alten Panoramabildern, die Kette der Schneeberge als gefrorene Brandung abzeichnete. In der Höhe das Murren eines Flugzeugs; aus der Tiefe das Schluchzen einer arabischen Frauenstimme. Er schloß die Augen und spürte die Nässe auf Lidern und Stirn.
Nach einer Viertelstunde stand er wieder an Marybels Arbeitsplatz. Ihre Augen hafteten auf dem Bildschirm.
Morgen um zehn Uhr im Wirtshaus von Salez.
Morgen um zehn im Wirtshaus von
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