Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sax

Sax

Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
Vom Netzwerk:
– Und schleppen schon die nächste ab? – Er deutete mit seinem dürren Finger auf das Bild.
    Herr Schinz, Fanny Moser war eine ehrbare Dame, sagte Achermann.
    Eine ehrbare Dame, sagt der Trockenwohner. Wissen Sie, was die einen Mann kostet? Das Leben. Ich sage nur: der Krug geht zum Brunnen, bis er bricht.
You can fool
all
people
some
of the time. You can fool
some
people
all
of the time. But you can’t fool
all
people
all
of the time
.
    Das haben Sie gut hingekriegt, sagte Achermann.
    Es
kommt
. Es kommt, wie es muß.
    Achermann lief los und preßte das Bild mit der Schauseite gegen den Leib, damit es ungeschoren durch den Regen kam.
    Er hatte Marybel lange nicht mehr an ihrem Arbeitsplatz aufgesucht. Jetzt legte er das Bild auf ihren Tisch.
    Von Thomas und Mara, ein Geschenk. – Sie blickte ihn kurz an.
    Was soll ich damit? Ihr reißt doch die Sternwarte nächstens ab. Aber wenn du grade mal da bist, heute kam ein Mail für dich, hohe Dringlichkeit. Wenn du deine Tochter noch sehen wolltest, müßtest du dich beeilen.
    Welche Tochter? fragte er.
    Was weiß denn ich? fragte Marybel. – Das mußt schon du wissen.
    Von wem ist das Mail? fragte er.
    Diebold, sagte sie, Anastas Diebold. Er wollte von seiner Frau geschieden werden. Aber du hast dich nicht gerührt. Anscheinend hast du sie geschwängert.
    Was für ein blühender Unsinn, sagte Achermann.
    Die Tochter sei neunzehn und sehr schön, aber es bleibe ihr nicht mehr viel Zeit. Soll ich das Mail ausdrucken?
    Marybel, sagte er, ich muß in den «Gugger». Das Bild lasse ich da. Und der Abbruch steht noch in weitem Feld.
    Hast du Personenschutz, Hubert? fragte sie.
    Warum?
    Nur so. Wenn die Frau Bundesrat werden will.
    Sidonie hatte in einem launigen Interview bekanntgemacht, sie habe ihrem Mann untersagt, sie am Wahltag nach Bern zu begleiten. «Wenn er mir in den Mantel helfen will, sage ich ihm: danke, es geht allein gerade schwer genug.» Sie zitierte das Männerkindbett bestimmter Naturvölker, bei denen der Mann am Tage der Niederkunft das Bett hüte, um böse Geister irrezuführen, «während die Frau der Feldarbeit nachgeht wie jeden Tag».
    Achermann hielt sich im «Eisernen Zeit» nie lange auf und vermied seine oberen Etagen ganz. Da er in der Stadt nicht erkannt oder gar auf einem Waldspaziergang angesprochen werden wollte, verbrachte er seine «Gugger»-freie Zeit lieber im Nebenhaus «zum Schwarzen Garten» und wußte jetzt die verschlossenen Gitter um den ehemaligen Lindenhof zu schätzen. Nach einem kurzen absurden Wortwechsel mit dem Invaliden auf dem Vorplatz der Doppeltreppe trank er Kaffee in Maras tropenfeuchtem Palmengarten und ließ sich, wenn er hinausging, von dem alten Schinz fragen, ob er gut gevögelt habe.
    Der über Neunzigjährige war des Schreibens nicht mehr mächtig, aber bestimmte Teile seines Gedächtnisses lagen noch in klarem, wenn auch seltsamem Licht, denn gelegentlich schien eine andere Person in seine Haut zu schlüpfen, etwa diejenige des verstorbenen Briefmarkenhändlers Peter Leu. Achermann wundertesich über das mehrfach belichtete Gedächtnis, das in Thomas Schinz’ Kopf rumorte. Das Haus «zum Eisernen Zeit», das Thomas nicht hatte kaufen können, war ebendarum die große Passion seines Lebens geworden. Schon für Goethe hatte sich das Haus mit einem Liebeszauber der dritten Art verbunden, als er es am 20. November 1780 mit seinem gleichfalls inkognito reisenden jungen Landesherrn Carl August besuchte. Zwar habe ihn das Gespenst des Herrn von Hohensax offenbar im unpassenden Moment überrascht, dennoch habe er von dieser Nacht eine Erfahrung mitgenommen, die gewissermaßen zum Schlüssel zu seinem eigenen Leben geworden sei. Thomas Schinz hatte die Sätze des Klassikers in Gold rahmen lassen, und Mara führte sie Achermann im Schlafzimmer des Invaliden vor:
Erst hier geht mir recht klar auf in was für einem sittlichen Todt wir gewöhnlich zusammen leben und woher das Eintrocknen und Einfrieren eines Herzens kommt das in sich nie dürr und nie kalt ist. Indeß bin ich auch schon wieder bereit daß uns der Sirocko von Unzufriedenheit, Widerwille, Undanck, Lässigkeit und Prätension entgegendampfe. Doch kann ich die Zeit unter die glücklichsten meines Lebens rechnen.
Die Obsession des alten Mannes für das «Hurenhaus» war demnach nur der säuerlich gewordene Ausdruck einer Haßliebe, die er für Körperlichkeit und Sexualität überhaupt empfand. Marybel blieb auch jetzt noch ein Gegenstand seiner

Weitere Kostenlose Bücher