Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sax

Sax

Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
Vom Netzwerk:
Residence
im «Gugger» auf und hatte mit Sidonies Wahlkampf scheinbar nichts zu tun. Um so intensiver trat er in ihrem Kulturprogramm auf und entzückte Insider mit Projekten wie «pataphysikalische Metamorphose» oder «die Kunst des Wirbels». Er veranstaltete auch eine «Sehschule für Zeitgenossen», deren Teilnehmer etwa Anamorphosen erst erkennen, dann selbst basteln lernten, Zerrbilder, die man durch Aufsetzen eines zylindrischen Spiegels an der richtigen Stelle zu regelrechten Gesichtern oder Landschaften auflösen konnte. Er nannte auch die
Picture Pit
in Shaidan eine anamorphe Architektur, für deren Entzerrung freilich ein Auge nötig wäre, das gleichzeitig von der Mitte und vom Rand her zu blicken wüßte.
    Über dieses Auge verfügte, neben Gott, zur Zeit nur Numa Gaul. Es war nicht zu übersehen, daß er sich Sidonies Gunst erfreute. Er war nur wenig älter als Salomon. Seinen Einstand in der Szene hatte er um 2000 in Dinkelsbühl gefeiert, mit einer Produktion, die er «Abokalypsen» nannte, mit weichem b, weil man sich darauf «einmalig abonnieren» konnte. Es waren Bilder, die sich «durch Ansehen» veränderten, aber, anders als die «von Milliarden Blicken abgelutschte Mona Lisa», real, aufgrund einer gegenseitigen Reaktion von Bild und Auge, «die ich nicht steuern kann: am Ende kommen Sie in jedem Fall zu einem überraschenden Selbstbild». Er war ein pointierter, dabei melancholischer Schlauredner, der Sidonie amüsierte und ihr am Kaminfeuer zur Erholung von der politischen Knochenarbeit angenehm war.

23
2011. Schnitt
    Es war ein warmer Augusttag; Achermann stand neben Annettes Pult in der Beletage. Da sah er schräg gegenüber den alten Thomas Schinz auf dem Treppenabsatz des «Schwarzen Gartens» im Rollstuhl mehr kauern als sitzen, unter einem weißen Gartenschirm, der in einem Zementblock befestigt war. Neben ihm stand ein Tischchen mit Getränken, und er starrte mit schief gehaltenem Kopf zum Oberstock des Hauses «zum Eisernen Zeit» hinauf.
    So sitzt er den ganzen Tag, sagte Annette, und beobachtet unser Dach. Kürzlich hat ihn René auch nachts um zehn Uhr da sitzen sehen.
    Bewegt er sich nie? fragte Achermann.
    Manchmal kommt diese Blondine und schiebt ihn ins Haus, aber nach kurzer Zeit ist er wieder draußen. Er tut nichts, absolut nichts. Aber er
schaut
.
    Ich rede mit ihm, sagte Hubert.
    Der Ausgang, der von Hermanns Ladengeschäft direkt in den Hof geführt hatte, war verschlossen und alarmgesichert. Achermann mußte, wie einst, den Weg um drei Ecken nehmen, und auch der Durchgang in den Hof war jetzt mit einem Gittertor blockiert. Als Anlieger hatte er einen Schlüssel. Das Haus «zum Schwarzen Garten» wandte ihm seine frisch verputzte klassizistische Fassade zu. Der Rollstuhl auf der hohen Plattform hätte jederzeit abstürzen können. Aber der Insasse rührte sich nicht.
    Guten Tag, Herr Schinz. Wie geht’s?
    Nach einer Weile sagte der Alte, ohne den Kopf zu drehen:
    Jetzt haben Sie die Bescherung.
    Was meinen Sie?
    Das Haus kommt herunter, sagte der alte Schinz leicht lallend. – Ihr habt die Kommunisten hineingelassen. Ich sollte es nicht haben. Und jetzt habe ich ein schöneres.
    Ja, Sie haben das Haus sehr schön gemacht, sagte Achermann, und in diesem Augenblick ging die Tür auf, und Mara kam heraus.
    Wollen Sie das Haus sehen, Herr Doktor? fragte sie. – Ich zeige es Ihnen gern. Es ist reines Biedermeier und absolut schwellenlos.
    Ein Hurenhaus, sagte der Alte.
    Mara lächelte. – Er meint
Ihr
Haus, Herr Doktor, nehmen Sie es nicht übel.
    Die Männer krepieren, keifte der Alte, und die Weiber bleiben lustig. Aber nicht mehr lange.
Es kommt.
    Ist es nicht heiß da draußen, den ganzen Tag? fragte Achermann.
    Es ist das einzige, was er sich gönnt, sagte Mara halblaut, und dann mit erhobener Stimme: Wir sind ja so froh, daß es ihm wieder gutgeht. Die Kur in Shaidan. Jeden Tag eine Stunde gewichtlos, und man ist ein anderer Mensch.
    Meine Mitarbeiter beschweren sich, sagte Achermann, er starre den ganzen Tag in ihr Fenster, oft bis in die Nacht.
    Das tun wir nicht, Thomas, sagte sie laut, wobei nicht klar war, ob es eine Antwort für Achermann war oder eine Mahnung an den Invaliden. – Kommen Sie morgen zum Tee, sagte sie beiläufig, dann erzähle ich Ihnen etwas. – Und wir gehen jetzt einen Augenblick in den Schatten, Thomas, nicht wahr?
    Ein Hurenhaus! sagte er störrisch.
    Dann auf morgen, Herr Doktor, sagte sie. Achermann hatte nicht den Eindruck, daß sie

Weitere Kostenlose Bücher