Sax
Salez, wiederholte er. – Gibt es nur eins?
Es muß der «Löwe» sein. Er war im Mai 1596 Schauplatz des Maiengerichts.
Ich habe viel versäumt, sagte Achermann.
Ja, du hast mich in all den Jahren nie angesehen. – Jetzt erhob sie ihre blauen Augen, aber sie wirkten starr. – Du bist kein schlechter Mensch, aber du hast schlechte Augen. Sie müssen dir einmal geöffnet werden.
Wie heißt meine Tochter? fragte er.
Kann eine Frau nicht ungetauft bleiben? fragte sie. – Was hängt an einem Namen? Muß man sich erst einen machen wie deine Frau Gattin? Tote sind namenlos, daran gewöhnst du dich besser gleich. Warum hast du aufgehört, das Rätsel zu lösen?
Ich verstehe den Spaß nicht mehr, den es früher gemacht hat. Es fehlt etwas.
Es hat dir nicht genug gefehlt, Hubert Achermann, sagte sie.
24
November 2011. Zum Löwen
Achermann drehte sich noch einmal um. Das Fabriklein blickte mit zwei regelmäßigen Fensterreihen wie aus Kreide geschnitzt durch den teilweise schon kahlen Obstgarten. Ein Flor schwebte über der nassen Wiese im Schatten des Waldhügels, hinter dem die Sonne schon aufgegangen sein mußte. Denn der Himmel war durchsichtig, und einige hundert Meter weiter lag der Weg schon in schwachem, doch reinem Licht.
Sie hatten die Nacht in Tövets Wohnküche verbracht, am Kamin, von dem man bis in die Höhe des Dachstuhls hinaufsah. Er war als Taubenschlag eingerichtet, und Reden und Schweigen waren immer wieder von leisem Gurren begleitet oder einem Rascheln des Gefieders, wenn sich die Vögel im Schlaf rührten. Sie verstummten, als plötzlich Regen einsetzte; weiße Blitze zuckten im Fenster, und von weit her hörte man es grollen, anhaltend, nachtragend. Im Garten schlug ein Stück Holz an, in kurzen Abständen, solange das Wasser in Fülle niederprasselte; erst wenn der Zustrom nachließ, verlangsamte sich auch der Takt des Schlagzeugs. Es war ein einfacher Apparat, mit dem japanische Bauern das Wild verscheuchten, wenn es in ihre Reisfelder einfiel. Dafür mußte er dauerhaft an fließendes Wasser angeschlossen sein; hier, wo er keinen Zweck erfüllen mußte, wartete er auf den Zufluß des Regens, und wenn er ausblieb, verstummte er ganz.
Auch diesem Verstummen hatten die Freunde noch eine Weile nachgehört. Mitternacht war vorbei; Tövet ging es unverhofft besser. Er hatte nach dem Nachtessen Huberts Arm genommen undihn in die Wohnküche geführt, während die andern im alten Spinnsaal sitzen blieben. Tövet rückte seinen Großvaterstuhl an den Kamin, Hubert nährte das Feuer, erzählte von seinen Jahren in Lüttich, von Maimonides, Mandy und Pascal und erinnerte sich an den Satz: Hoffnungslosigkeit ist normal. Er sprach ihn in die Flammen, es schien ihm taktlos, Tövet dabei anzusehen. Weißt du, hatte Tövet gesagt, es ist nur der Einzelne, der stirbt, und damit muß er allein fertig werden. Aber Menschlichkeit stirbt nicht – da kannst du sie veruntreuen, soviel du willst. Sozialismus! So was von tot, wie der geredet und geschrieben wurde. Und jetzt sieh Karl und Rosa! Vor einem Jahr hättest du gesagt: wenn zwei Leute auf der weiten Welt gegen jeden politischen Gedanken immun sind, dann die. Und jetzt lesen sie ein Stück des alten Brecht, und plötzlich wollen sie wissen, was sie bei der «Phryne SA» eigentlich getan haben. Moritz will es nicht mehr wissen – aber sie! Und was hat ihnen auf den Sprung geholfen? Kein Buch. Keine Belehrung. Die Liebe. Ein bestimmtes Gefühl, daß Glücklichsein verpflichtet – und daß von einer Liebe schon morgen nur private Scheiße bleibt, wenn sie die Unglücklichen nicht eingeschlossen hat. Dann müssen sie nur noch merken, daß mit Mitleid nichts getan ist, und sie sind auf dem Weg.
In diesem Augenblick erschien ein grelles Licht im Fenster, und mit dem unmittelbar folgenden Donnerkrachen zugleich begann draußen Wasser zu strömen, als würde eine Schleuse geöffnet. – Was immer Tövet in das Tosen hinein sagte, Hubert war nicht sicher, recht gehört zu haben. Immer neue Salven von Blitz und Donner fuhren dazwischen, als wolle Zeus seine Zustimmung so weit treiben, bis sie nicht mehr zu verstehen war. Doch als die Wut des Gewitters gestillt schien, ging auch Tövets Atem regelmäßig. Er behielt den Mund offen und schnarchte leise. Es war das Leben selbst, das den Körper des Kranken besuchte und wieder verließ, und sein Atem würde erst stocken, wenn Tövet versuchte, ihn festzuhalten. Bei ihm zu wachen kam Hubert jetzt wie das einzige
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