Sax
Mauerpforte ins Freie traten, befanden sie sich noch kaum auf halber Höhe des Turms gegenüber, dessen Zinne sich im Nebel verlor. Seine Wände hätten auch Felsen sein können, denn in den Ritzen und Spalten gediehen Bäumchen und Gras, aber die Form des Achtecks war trotz verwitterter Kanten noch zu erkennen. Eine Zugbrücke führte hinüber zur Gegenpforte, es waren nur zehn Schritte, dennoch erwies sich das hohe Geländer als wohlbegründet. Denn kaum trat man hinaus, kämpfte man schon gegen einen Sturm, daß der Atem stockte und die Kleider wie Fahnen flatterten. Auch die Brücke selbst wiegte sichmerklich, so daß die drei sie fluchtartig überquerten. Aber drüben tauchten sie in eine so eiskalte Sphäre, daß sie sich wieder nach dem Sturm zurücksehnten. Die von Neonlicht grellbeleuchtete Plattform schien der einzige Raum im Turm zu sein, denn weder nach oben noch nach unten führte eine Treppe, und die Kälte stürzte so ungehindert durch die massive Balkendecke, als wäre diese aus Luft.
Der Raum war mit offenen Regalen bestückt, die in dichten Kolonnen standen und durchweg, vom Fußboden bis zur Decke, mit Glaskugeln aller Größen belegt waren. In jeder schwamm ein Embryo, dessen Entwicklungszustand der Größe des Glases entsprach. Die Mehrzahl der eingeglasten Geschöpfe bewegte sich, manche ruhig, manche heftiger, einzelne schienen zu rudern oder um ihr Leben zu kämpfen. Wie ein vielfaches Ticken war das Anschlagen der Füßchen und Fäustchen gegen das Glas zu hören, sonst aber kein Laut. Die gebeugten Frühbilder der Menschengestalt wirkten schutz- und hoffnungslos, und bei den ruhigen Embryos war man nicht sicher, ob sie nur eingeschlafen oder bereits tot waren.
Welche Kälte, sagte Achermann.
Sie spüren es nicht, sagte Adriana.
Alles spüren sie, sagte Friderichludewig, jede Bewegung.
Wo ist meine Tochter? fragte Achermann.
Kommen Sie, Ehrwürden, sagte Friderichludewig.
Er ging Achermann voraus, durch einen Korridor nach dem andern, die sich wie Kühlschlangen aneinanderlegten und so eng waren, daß Achermann fast mit der Nase an die Kinderschemen stieß. Im zweithintersten Gang zeigte Friderichludewig auf ein Glas unter Augenhöhe, so daß sich Achermann bücken mußte und sich fast Stirn gegen Stirn mit dem gar nicht kleinen Geschöpf befand, das seine Tochter war und ihn unter fertig ausgebildeten Lidern und Wimpern ansah, die sie aber so weit niedergeschlagen hatte, daß nur ein fließender Spalt zu sehen war. Es war ein ausdrucksloser Rest von Blick, und Achermann kam es so vor, als sei das Auge im Begriff zu brechen. – Wo ist die Nabelschnur? schrie er laut; dochkein einziges der Geschöpfe, die in den Kugeln eingeschlossen waren, hatte eine Nabelschnur. – Sie ersticken so leicht daran, sagte es neben ihm, und in diesem Augenblick sah er, wie das Geschöpf, seine Tochter, die kleinen Arme ausbreitete. Die Bewegung schien schon matt, er sah, wie die vollkommen ausgebildeten Fingerchen zuckten, und war sicher, keinen Augenblick mehr verlieren zu dürfen. Er sah sich um, plötzlich war kein Mensch mehr zu sehen, aber an der Wand lehnte ein zweizinkiger Eisenstock. Er packte ihn mit Fingern ohne Gefühl, um das Glas der Tochter zu zerschlagen. Doch traf er in der Enge ungewollt zuerst zwei oder drei andere, die zu Boden fielen und weiterrollten wie Bälle, ohne zu zerbrechen, während die Geschöpfe darin um und um gedreht wurden. Sie hatten die Augen aufgerissen und zappelten mit allen Gliedern. Endlich hatte er auch die Kugel seiner Tochter getroffen, so heftig, daß sie weit wegsprang, und beim Versuch, sie einzuholen, stolperte er über andere Kugeln. Sie federten wie Plexiglas, und mit hochgezogener Stange fiel Achermann nun selbst, verzweifelt bemüht, die entsprungene Kugel seiner Tochter nicht aus den Augen zu lassen. Aber als er zum zweiten Mal hinschlug, waren die Embryos nicht mehr zu unterscheiden, und er hämmerte mit aller Kraft, doch wirkungslos auf irgendeine Kugel ein, es mußte einfach die richtige sein. Aber wenn der Glaskörper vielleicht der einzige Schutz war, den das empfindliche Geschöpf gegen die Eiseskälte besaß? Der Gedanke war noch nicht zu Ende gedacht, da hörte er es in der Kugel knirschen, ihre Wand beschlug sich, das Innere wurde undurchsichtig und begann sich blutig zu färben. Mein Gott, es darf nicht wahr sein! betete er, wenn da noch etwas zu retten war, mußte es jetzt mit einem absolut treffenden Schlag geschehen, sonst …
Es war
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