Sax
alles vorbei. Achermann stand unter einem fast vollen Mond, vor der Kirche Sennwalds, wie er sie von Bildern kannte. Der Spitzturm, einem kleinen Satteldach aufgesetzt, war deutlich zu erkennen, die weißen Kirchenwände leuchteten geradezu. Der geisterhafte Schimmer der Berge antwortete ihnen jenseits desweiten Tales, über dem der Nebel gerissen war. Nur einige zarte Bänke hingen noch an den Bergflanken, und entfernte Siedlungen zwinkerten wie Nester von Glühwürmchen. Er befand sich auf dem Friedhof, auch da brannten Kerzen in roten Gläsern, auf der Mauer aber leuchteten Rübenlichter, wie sie Hubert als Kind geschnitzt und im Umzug durch das Städtchen getragen hatte.
Auf dem Kirchenvorplatz stand eine junge Frau. Er räusperte sich, um sie nicht zu erschrecken, bevor er aus dem Dunkel der Zypressen und Buchsbäume trat. Aber sie kam ohne Verlegenheit auf ihn zu, und ihm war, als müßte er sie kennen.
Ich bin die Tochter des Mesners, begrüßte sie ihn, bei Ihnen wird er Sigrist heißen.
Mesner verstehe ich auch, sagte er.
Dort ist das Leichenhaus, der Freiherr ist letzte Tür rechts. Sie waren noch nie da.
Nein, sagte er. – Danke, daß Sie auf mich gewartet haben.
Vom ersten Augenblick an empfand er Vertrauen zu dieser Frau und wunderte sich, warum es ihn zugleich so sehr schmerzte. Ihr Gesicht lag im Schatten des Haars.
Ich gebe Ihnen den Schlüssel, sagte sie, Sie wollen sicher ein wenig allein sein.
Ach nein. Kommen Sie doch bitte mit.
Sie gingen auf ein niedriges Gebäude zu; die Frau schloß die Tür ganz rechts auf und machte Licht. Der Raum war nicht größer als eine Zelle. Die Frau zog die Decke vom Glaskasten der Mumie weg; für Achermann hatte sie nichts Bedrohliches mehr. Der Kopf mit der aufgerissenen Mundhöhle und den blinkenden Zähnen, das bis zur Ausdruckslosigkeit verwischte Gesicht, der Schädel, dessen Blessur nur zu sehen war, wenn man wußte, wo man sie zu suchen hatte; die mit braunem Plastilin nachgebildeten Hände – bei den Füßen hatte man sich die Mühe gespart, die Stummel starrten wie mutwillig gestutzte Krücken. All das hatte unter Glas die Objektivität eines Präparats und entsprach den Schaubildern, Erklärungen und Zeitungsausschnitten, mit denen die Wände bedecktwaren. Dies war ein ortsgeschichtliches Museum, das immer wieder von Schülern und Damengruppen besucht wurde, wie die Begleiterin berichtete. Nach einer spektakulären Frequenz klang es nicht.
Im übrigen blieb die junge Frau wortlos. Sie schien seine Kenntnisse von den Lebensumständen des Freiherrn vorauszusetzen; ihr Verzicht auf Dienstfertigkeit erlaubte die Illusion großer Nähe. Sie sagte, das Lachen des Toten erinnere sie an Ray Charles. – Finden Sie, daß er lacht? – Ray Charles lacht auch nicht richtig. Vielleicht zeigt er dem Publikum die Zähne, und das soll es nicht merken. – Sie selbst lachte ungeniert. Er fand sie, im Licht der Totenkammer, nicht schön, doch vertraut. Woher kannte er sie?
Kennen Sie Aspermunt? fragte er sie. – Sie schüttelte den Kopf, ihr Lachen war erstorben, als hätte sie ihn nur zu gut verstanden. – Habe ich etwas Ungehöriges gesagt? – Warum? – Weil Sie rot geworden sind. – Sie lachte wieder und errötete noch stärker.
Wenn Sie mögen, sagte die Frau, zeige ich Ihnen noch den Kirchturm, wo er gewesen ist, bis sie ihn hierhergebettet haben, 1980, glaube ich. – Man hörte ihr an, das war für sie bereits ein Datum aus undenklicher Vorzeit. – Aber Sie können auch gern weiter hierbleiben.
Warum sollte ich? lächelte er. – Ja, den Turm sähe ich gern.
Das säuberlich renovierte Innere des vierstöckigen Kirchturms war nicht mehr geeignet, einen das Gruseln zu lehren. Achermann ging wortlos zwischen kahlen Wänden herum. Erst in der Glockenstube rührte sich etwas. Er sah die Frau an der offenen Schalluke stehen. Er stürzte sich auf sie und schloß sie in die Arme, zu Tode erschrocken. Sie erschrak jetzt ihrerseits und sah ihn mit großen Augen an. Aber zu seiner Verwunderung stieß sie ihn nicht weg.
Jetzt springe
ich
, sagte er, und im nächsten Augenblick hatte er es getan.
Er sah den Lindenwipfel auf sich zukommen, der ihn wispernd empfing und gelassen durchreichte, von Ast zu Ast, bis er auf festem Boden stand und in die Mündung eines Revolvers blickte.
Der Mann trug einen fast fußlangen Mantel und warf einen langen Schatten über den Kies.
Sie haben lange gewartet, Herr Doktor Diebold, sagte Achermann.
Drehen Sie sich um,
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