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Sax

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Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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Sidonie?
    Ihre Kandidatur war ein Hochseilakt, bei dem nicht alles, sogar das wenigste von ihrer eigenen Balance abhing. Dabei spekulierte die Partei auf ihre eigene Risikobereitschaft und ihre Verachtung von Sicherheitsnetzen. Würde sie nach einer ehrenvoll genannten Nichtwahl «ins Glied zurücktreten»? Aber dort hatte sie noch niegestanden. Der Reiz dieser Kandidatur bestand in ihrer schieren Kühnheit – es war
unschweizerisch
, was die bekennende Schweizerin versuchte. Ihr Patriotismus hatte keinen einheimischen Zungenschlag. In einem Interview hatte sie lächelnd die Schweiz selbst unschweizerisch genannt – so redet man nicht; damit verschenkt man die Gutartigkeit, die schon aus dem Selbstverständnis eines Magistraten herausleuchten muß, bevor sie seinen Verkehr mit dem Bürger und Steuerzahler bestimmt. Ein Bundesrat wird nicht gewählt, um Dinge zuzuspitzen, sondern um Wogen zu glätten und auf das Beste zu hoffen, wenn er schon das Schlimmste nicht verhindern kann. Von Sidonie ging kein Gefühl der Geborgenheit aus; sie verschmähte es ausdrücklich. Ist das eine Landesmutter? Was hatten die «Problemfelder», die sie in ihrer radikal-konservativen Denkfabrik bearbeiten ließ, mit dem Vaterland zu tun?
    Die Tribünen waren brechend voll, am Mittwoch, dem 23. November, um acht Uhr früh, als die Sitzung beider Kammern mit der Würdigung des abtretenden Bundesrats begann. Die Nation saß vor dem Fernseher, die Quote stieg von einem Wahlgang zum nächsten. Nachdem die wilden Kandidaten abgebröckelt waren, lag vor der dritten Runde Haudenschild, bei vielen Enthaltungen, mit fast zwanzig Stimmen vorn, blieb allerdings ebenso viele von der absoluten Mehrheit entfernt; von jetzt an genügte die relative. Und nach offenbar intensiven Gesprächen in der Wandelhalle folgte die Überraschung: Sidonie Wirz war mit einer Stimme Vorsprung in den Bundesrat gewählt! – ihrer eigenen, wie ein Kommentator sogleich mit wohlfeiler Malice bemerkte. Auch die verlangte Nachzählung ergab nichts anderes; Schieß mußte sein ganzes Gewicht in die Waagschale geworfen haben. Die Tribüne raunte, die Räte schienen von ihrer eigenen Entscheidung so perplex, daß der Beifall sekundenlang auf sich warten ließ. Dann aber lag Sidonie Wirz-Achermann, in einem dunkelgrünen Plissékleid, Melchior Schieß in den Armen. Sie war am Ziel.
    Sie stand schon, von Gratulanten umringt, mit Buketts überhäuft, von Mikrophonen bedrängt, auf dem Bundesplatz, als ihr derPressereferent mit starrem Gesicht etwas ins Ohr raunte. Sie bat ihn beiseite. Der Jaguar ihres Mannes sei in der Nähe von Wildhaus gefunden worden, halb abgerutscht auf der Böschung eines Waldwegs. Von dem oder den Insassen fehle jede Spur. Die polizeiliche Suche sei im Gange – mit aller gebotenen Diskretion.
    Daß diese nicht lange zu wahren war, versteht sich, am wenigsten an diesem Tag. So teilten die Agenturen die Wahl Sidonies mit – und schon eine Stunde später die Vermißtenmeldung ihres Mannes. Die Schlagzeilen verschmolzen in der Hitze, die sie verbreiteten, und die Lettern waren kaum kleiner als die Bilder, welche die neugewählte Bundesrätin vor und nach der fatalen Nachricht zeigten – und konnten nicht stärker sein als die des Jaguars, der mit vier offenen Türen an einer obskuren Wegkante liegengeblieben war. Die neue Bundesrätin gab keine Erklärung ab. Dafür flogen alle Plagen veröffentlichter Meinungs- und bald auch Stimmungs-, sogar Panikmache aus. War Achermann entführt worden? Wurde seine Frau – und jetzt der Staat – erpreßt, und von wem? Was machte sie erpreßbar? Was hatte ihr Mann am Tag ihrer Wahl im Toggenburg zu suchen? Hatte er nicht einer linken Zelle angehört? War bereits ein feindlicher Geheimdienst am Werk?
    Die grenzüberschreitende Personenfahndung wurde erst am nächsten Tag fündig, an einem Ort, von dem in der Schweiz noch kaum jemand gehört hatte. Der Oberbürgermeister der kleinen Stadt Mosbach im Odenwald, Dr. Uwe Hahn, bestätigte, daß ein Hubert Achermann am Spätnachmittag im Rathaus aufgetaucht war. Er hatte ein kleines schlafendes Mädchen auf dem Arm getragen und war von einem scheu wirkenden Jüngling mit asiatischen Gesichtszügen begleitet worden. Die Gruppe sah so aus, als hätte sie sich nach einem Spaziergang über den Markt ins Rathaus verirrt, um halb sechs Uhr, zu einer Zeit, wo diensttuendes Personal normalerweise nicht mehr darin anzutreffen war. Plötzlich standen sie im Vorzimmer, und der Fremde

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