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Sax

Sax

Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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Tote, so Achermann, habe einmal als Kind angefangen. Wenn er von Vergessen sprach, habe seine Stimme gezittert wie vor heiliger Wut.
    Und er meinte sich selbst, denken Sie.
    Ja und nein. Er meinte schon auch diesen Sax. Der einmal in seinem Leben glücklich war, und gerade in Mosbach.
    Da Moritz schwieg, redete Sidonie. – Hubert ist verschollen, zu diesem Wort gibt es kein Präsens, keine aktive Form. Aber er hat sich immer gewünscht zu verschallen wie Tom Sawyer, jetzt ist er verschollen und lacht sich ins Fäustchen, wenn er seinen Nekrolog liest oder den Schabernack von der Mumie im Bücherschrank.
    DNA bleibt DNA, sagte Hahn. – Da steht natürlich der Verstand still. Aber das täte er sowieso jeden Tag, wenn wir ihn ordentlich brauchten. Im Magistrat haben wir beschlossen, Widersprüche zu ignorieren und das Ehrengrab einzurichten. Und wenn der richtige Freiherr nicht mehr zum Vorschein kommt …
    Dann nehmen Sie so lange den falschen Achermann? lachte Sidonie. – Lieber Herr Hahn, setzen Sie doch einen Denkstein für beide, dafür brauchen Sie keine Leiche!
    Wie wirkte er auf Sie? fragte Moritz.
    Dringlich, aber gefaßt. Er hatte verschiedene Augen, das war das Auffälligste, einen breiten, ich möchte sagen sinnlichen Mund und eine unglaublich tiefe Stimme.
    Moritz und Sidonie sahen einander an. Sie fragte: Haben Sie Videoüberwachung?
    Wir richten sie gerade ein, sagte er, bei der Knappheit der kommunalen Mittel …
    Wenn der Vogel ausgeflogen ist, schließen Sie die Tür, sagte Sidonie.
    Und dieser Asiate? fragte Moritz.
    Bleibt ein Rätsel, sagte Hahn, genau wie das kleine Kind.
    Warum das ganze Theater? fragte Sidonie unverhofft schrill. Wie kommt jemand dazu, sich für einen Menschen zu wehren, der schon vierhundert Jahre tot ist? Hat er nichts Besseres zu tun?
    Sidonie, sagte Moritz Asser in die betretene Stille hinein, hättest du ein Stück Brot? – Die Bitte hatte etwas Entwaffnendes; Sidonie telefonierte zum dritten Mal.
    Sind Sie – arbeitslos? fragte Hahn behutsam.
    Herr Dr. Moritz Asser war bis vor kurzem leitend im Finanzgeschäfttätig, sagte Sidonie, und Hahn musterte ihn jetzt doppelt mitleidig.
    Und schon gibt mir niemand mehr ein Stück Brot, sagte Asser mit schiefem Kopf und breitete die gespreizten Finger beider Hände vor sich aus.
    Und jetzt stehen Sie vor dem Nichts? fragte Hahn bewegt und eine Spur angewidert.
    Ich habe noch ein kleines Erbe meines Vaters zu verschwenden, sagte Moritz. – Aber das Stiftungsvermögen ist durchgebracht.
    Ein
Stiftungs
vermögen?
Durchgebracht
? fragte Hahn jetzt ehrlich erschüttert. – Waren Sie so schlecht beraten?
    Wir steckten alles in eine faule Bank, sagte Moritz, ein Kännchen Öl in die Räder des Kapitalismus. Ihm ist egal, wo und wem es ausgepreßt wurde. Früher glaubten wir, es sei Sand, was wir hineinschütten. Aber wie Ihr Herr Jesus Wasser in Wein verwandelt hat und Wein in Blut, verwandelt das Kapital auch Sand in Öl.
    Waren Sie ein Achtundsechziger? fragte Hahn halb ehrfürchtig, halb degoutiert.
    Das war der reine Ölsand, sagte Moritz Asser, von den Achtundsechzigern hat das System am längsten gelebt, und sie von ihm am besten. So einer war ich auch und lebte auf Teufel komm raus. Warum sollte ich mich um das Wohl von Urenkeln sorgen, die ich nicht habe? Und wenn ich sie hätte: warum soll ich viel nachfragen? Sie würden von mir auch nichts wissen wollen – mit Recht.
    Hahn war erschüttert. – Entschuldigen Sie, Herr Asser, aber wenn man mit der sozialen Marktwirtschaft groß geworden ist …
    Glauben Sie ihm kein Wort, Herr Oberbürgermeister, sagte Sidonie. – Gleich wird ihm das Maul gestopft. Und Sie werden erleben, daß er sein letztes Brötchen mit Ihnen teilt.
    Eine junge Malaiin mit Schürzchen rollte einen Trolley herein und begann den langen Granittisch zu decken, den Ausleger der Kaminbank. Als sie die Getränke servierte, trat der Hüne näher, der unbemerkt eingetreten war. Sidonie erhob sich und legte ihm die Arme um den Hals. Dabei machte sich der Größenunterschied sobemerkbar, daß sie sich weit zurücklegen mußte. Leicht geniert hielt er sie in einem Arm und griff mit der anderen Hand nach einem Canapé.
    Lecker, sagte er.
    Bei diesem Wort geht Moritz an die Decke, Numa, sagte Sidonie.
    Hoffentlich bleibt er dort, bis ich hier abgeräumt habe, grinste der
Artist in Residence
und steckte sich schon das zweite Brötchen in den Mund. – Pardon, ich bin ein typischer Teutone. Sehe ich ein Gratisbuffet,

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