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Sax

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Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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weil er geliebt wird, dann braucht einerwie ich gar nicht erst die Gegenprobe zu machen. Ich bin Jungfrau, wie Salomon, und habe mir gelobt, es zu bleiben.
    Wie Salomon? fragte Sidonie bestürzt. – So etwas hat er mir nie gesagt.
    Söhne haben ihre Geheimnisse vor den Müttern. Wissen Sie, Verehrte – wer in der Liebe mitreden kann, den erkennen Sie am besten daran, daß er darauf verzichtet. Nach allem, was ich sehe, verlangt die Liebe vom Menschen zuviel. Sie hat was Unmenschliches.
    Jetzt schaltete sich OB Hahn ein. – Ich muß Ihnen widersprechen. Liebe mag hie und da fast Übermenschliches verlangen, aber ohne sie kämen wir im Menschlichen nicht weiter.
    Die Fortpflanzung können Sie nicht meinen, die geht auch ohne Liebe, sagte Gaul, vom Vergewaltigungskind bis zum
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. Aber gibt es Liebe ohne Gewalt? Wie gewalttätig Marybel werden konnte, erlebte Jacques an ihrer Zärtlichkeit. Er floh in seinen philippinischen Kindergarten und schließlich aus dem Leben. Ich war an seinem Begräbnis dabei und sah, wie sie auf sein Grab gepinkelt hat. Es war ihre Machtergreifung. Jetzt herrschte sie über Leben und Tod.
    Sie wollen sagen, die Phantasie dieser Person bringt nicht nur die klügsten Männer um, sie bereitet auch den Weltuntergang vor? fragte Sidonie.
    Vielleicht muß dafür eine Naive her. Die Kräfte, die sie anzapft, sind nicht trivial – alles andere. Doch was untergeht, ist eine kleine Welt, astronomisch betrachtet.
    Wir haben keine andere, sagte Sidonie.
    Ich hätte mich längst zurückziehen sollen, sagte Hahn. – Ich bitte um Entschuldigung.
    Und wir bitten um Diskretion, für alles, was Sie heute gehört haben, namentlich was das Fest betrifft. Wir erwarten hohen Besuch. Auch Mosbach ist selbstverständlich eingeladen.
    Danke ergebenst, sagte Hahn. – Aber eine Frage hätte ich noch. Wegen dieser Granulate. Das ist doch sehr unheimlich. Wird es denn ernsthaft abgeklärt?
    Man kann es nur hoffen, sagte Gaul.
    Aber daß man nichts darüber liest, ist ein schlechtes Zeichen. Seit ich im Amt bin, weiß ich, wie die Medien arbeiten. Sie berichten so, daß man nicht einmal mehr dem trauen kann, was sie nicht bringen. Sie sind Physiker, Herr Gaul. Ist es möglich, daß diese verschmorten Kügelchen … etwas mit schwarzen Löchern zu tun haben? Einem – wie soll ich sagen – Schwund der Materie, der plötzlich unkontrolliert um sich greifen könnte?
    Hut ab vor Ihren Sorgen, Herr Hahn. Solche wird man nicht bei manchem Oberbürgermeister Baden-Württembergs finden. Lösen Sie gerne Rätsel?
    Ich war immer ein wenig ein Nußknacker, sagte Hahn. – So hieß ich bei der katholischen Jugend.
    So sehen Sie wahrhaftig nicht aus, Herr Oberbürgermeister, sagte Gaul.

28
2013–2013. ÖKODROM
    Mitte Januar flog Sidonie nach Shaidan und konnte, wenn sie denn wollte, die Wahl von Melchior Schieß in den Bundesrat im Netz verfolgen. Das bereits abgefeierte Mitglied der Landesregierung hatte noch einen Monat länger in die Lücke springen müssen, die es, nach dem Urteil der eigenen Partei, nicht hinterließ. Aber auch Schieß füllte keine Lücke. Er definierte vielmehr die Regierung ganz neu, kraft seiner Person, und betrachtete seine Wahl durch das Parlament als Provisorium. Wolle es dieses Privileg behalten, verkündete er zuvor, so dürfe es ihn nicht wählen. Ein Ministerium sei ihm nur etwas nütze, wenn er auch über die nötigen Vollmachten im Justizbereich verfüge. Damit gab er schon vor der Wahl seine Regierungserklärung ab: kein Beitritt zur EU; eine scharfe Kontrolle der Zuwanderung und die Erhebung des «Volkes» zum Souverän in eigener Sache – die im Konfliktfall auch Vortritt hatte vor internationalem Recht. Verträge, an welchen er, als Vertrauensmann des Volkswillens, Anstoß nahm, waren zu kündigen.
    Die bürgerliche Konkurrenz war bereit, ihn mit den gewünschten Vollmachten auszustatten, um Schlimmeres zu verhüten; was wäre denn das Schlimmste gewesen? Das unaufhaltsame Wachstum der Vaterländischen in der Opposition, das ihnen im Krisenfall, den sie täglich heraufbeschworen, den Staat ausliefern konnte; da war es gewiß klüger, sie durch Entgegenkommen zu entwaffnen. Und in der Tat, als Schieß gewählt wurde – mit vielen Enthaltungen –, begnügte er sich einstweilen mit dem Außenministeriumund benahm sich wie ein Staatsmann, der bei den europäischen Nachbarn die Runde machte und sich als Mann würdigen ließ, mit dem man verhandeln kann und muß, nicht ohne

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