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Sax

Sax

Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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klassizistischen Stil und ebenfalls verglast. Die Mitte des Raums nahm ein ovaler Tisch ein; die Zipfel der roten Samtdecke berührten fast den Boden.
    Wirz war einmal Kranzturner, sagte Sidonie, auch ein Schütze, bis es ihm das Müetti verbot. Als er nicht mehr schießen durfte, hat er schöne Steine gesammelt und ein Kind adoptiert. Ein Mädchen.
    Sidonie, fragte er, Sie haben mich nicht geliebt. Warum haben Sie ein Kind von mir gewollt?
    Sidonie betrachtete ihn.
    Da Sie von Liebe sprechen, möchte ich Ihnen etwas zeigen.
    Sie schloß den linken Bücherschrank auf und tastete im untersten Regal hinter der Reihe der Bildbände. Sie zog eine zerfledderte Broschur aus dem Versteck, die sie aufblätterte und ihm unter die Augen hielt. Er sah eine pornografische Zeichnung im Stil der zwanziger Jahre. Sie zeigte einen akkurat gescheitelten Gent im Smoking, der sich über eine Dame beugte, deren Cocktailkleid über die weit geöffneten Beine hochgerutscht war. Wortlos reichte er die Broschüre zurück.
    Das war Wirz, sagte sie, der weltliche Schrank seiner Bibliothek. Rechts steht der geistliche Schrank, damit hat er seine Hausandachten bestritten. In
diesem
Stil.
    Sie zeigte auf das Bild über der Tür, eine Darstellung Schnorr von Carolsfelds aus dem Leben Jesu, gezeichnet für die Kinderbibel.
    Lasset die Kindlein zu mir kommen, sagte sie, und wehret ihnen nicht, denn ihrer ist das Himmelreich. Ich war neun, als ich zu ihm kommen mußte. Das Müetti war im Krankenhaus. Jetzt dürfe
ich
etwas für ihn tun. Ich sei ja nicht immer lieb zu ihm gewesen. Jetzt könne ich dafür einmal ganz lieb sein. Dazu streichelte er mich, ich wußte genau, was er meinte, und sagte: laß mich los. Sofort!
    Da fragte er: ob ich wisse, daß ich ohne ihn gar nicht mehr am Leben wäre? Sogar Judenkinder seien lieb zu ihren Vätern, die müßten nicht extra darum bitten. In der Bibel hätten zwei gute Töchter ihrem Vater etwas Liebes getan, und er zeige mir jetzt, was. – Das Kindlein wollte nicht zu ihm kommen, es wehrte sich. Danach züchtigte er mich. Ich zeige Ihnen die Spur des Verbrechens.
    Sie nahm Achermanns Hand und führte ihn zum Tisch. Dann hob sie einen Zipfel des Tischumhangs. An einer Stelle war der rote Flor verklebt und borstig.
    Das ist der Same von Vater Wirz, sagte sie.
    Warum haben Sie das so gelassen?
    Zum Andenken. Als Müetti starb, hat er es mit beiden gemacht.
    Mit beiden? fragte Achermann befremdet. – Mit Ihnen auch?
    Warum nicht? fragte sie. – Es machte mir nichts aus. Ich war ja schon eine ganze Weile tot. Das haben Sie einfach nicht geglaubt, nicht wahr? Aber ich habe es Ihnen doch gezeigt.
    Sie haben mir alles andere gezeigt.
    Sie heilige Unschuld, sagte sie.
    Wenn Sie damit sagen wollen …
    Nein, das will ich nicht sagen, mein Freund. Ich rede nicht vom weiblichen Orgasmus. Geschenkt. Mein Tod geht tiefer, als ein verehrlicher Männerschwanz reicht. Das tut mir leid, aber nicht für Sie. Sie sind zu Ihrem Spaß gekommen, oder nicht? Tote sind scharf.
    Sie sind als Kind mißbraucht worden, sagte Achermann. – Das wußte ich nicht.
    Wirz hat versucht, mich zu beschenken. Mit mir zu beten, hat er nicht mehr gewagt. Als ich sechzehn war, fragte ich ihn: was bekomme ich jetzt dafür? – Wofür? fragte er. – Daß ich dich nicht anzeige, lieber Vater. Und als er erschrak, sagte ich: du bezahlst jetzt, oder du marschierst ins Gefängnis. Was willst du denn? fragte er. – Hol dir einen runter, sagte ich. – Zeig, daß du ein Kerl bist. Ich habe ihn gefoltert. Quitt waren wir noch lange nicht, das zeigte er in seinem Testament. Reue, Wiedergutmachung? Schiß hatte er, über den Tod hinaus. Er wußte: für meinesgleichen sind Gräber kein Hindernis. Der Engel, der ihn drüben in Empfang nehmen würde, war ich, in meiner wahren Gestalt.
    Was ist Ihre wahre Gestalt?
    Lieblos. Absolut lieblos.
    Es klopfte an die Tür. – Ihr Termin, Frau Wirz, der Fahrer wartet.
    Ich komme, Matuschka, eine Minute, sagte Sidonie laut. – Sie sehen aus, als ob Sie sich verabschieden wollten.
    Ich glaube es nicht, sagte er.
    Ich wünsche mir nicht, daß Sie mir glauben, sagte sie. – Bleiben Sie dabei.
    Auch Verena war ein Opfer, sagte Achermann.
    Glauben Sie, daß sie davon besser wird? Opfer hassen einander gegenseitig noch mehr als ihre Täter. Opfer müssen böse sein. Es ist das einzige, was sie ein wenig erleichtert. Als ich in den Wehen lag, sagte ich Gott: du läßt mich jetzt ein Leben zur Welt bringen. Dann nimm aber

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