Sax
steuerten das Gemeinwesen an den Klippen und Untiefen politischer Eitelkeit vorbei. Sie gälten als konservativ, aber das Gegenteil sei wahr; diesen Luxus könnten sich nur sogenannte Staatsmänner leisten, welche die Welt fortwährend verändern wollten. Die Dienenden aber seien die Leute, wirkliche Veränderungen, die sich auch ungesucht einstellten, zu erkennen und zu beherrschen. Ihre Staatskunst gebe den Ausschlag in jedem System, auch in der Wirtschaft, und da am meisten. «Ich dien» sei eine Devise für Könige, nicht für Kreaturen. Die Dienenden aller Länder und Systeme brauchten einen Ort, an dem sie zusammenkommen könnten, um nicht nur ihre Visitenkarten auszutauschen, sondern um Flagge zu zeigen, eine, bei der es nicht auf die Farbe ankomme, sondern auf die Textur, die Bindung. Und bei allen, gleich welcher Herkunft, ziehe sich durch diesen Stoff der Goldfaden der Verbindlichkeit, man dürfe auch sagen: des
Glaubens
. Sie sprach selbst wie eine Gläubige, während sie mit großen Schritten ihrer Sonne zustrebte. Sie hatte sich in spektakulärer Umgebung ein Theater gebaut, und jetzt suchte sie Stoffe dafür, Effekte, Darsteller. Die wichtigsten Darsteller saßen im Publikum. Das einzige, was schon feststand, war die Regie.
Die Höhe war erreicht, vom Zentrum des Sonnensystems waren es nur noch hundert Schritte zum Eingang des «Gugger». Diesmal bekam der Gast auch Sitzungs- und Konferenzräume zu sehen, die stilvoll in das alte Zimmerwerk eingepaßt waren. Er sah Archiv und Mediathek, den mit Monitoren bestückten Raum der
Sicherheit
; schließlich führte sie ihn über vier Treppen hinauf zu den Giebelstuben.
Sie klopften umsonst und mußten geradezu ungebeten eintreten.Ein schmaler Junge mit faustgroßen Hörern am Kopf saß, wie in einem Cockpit, an einem wandlangen Corpus, das mit Schaltern, Reglern und Meßanzeigen bestückt war, und steuerte Frequenz und Verlauf der bunten Zuckungen, die auf den Bildschirmen erschienen. Er ließ Hände und Füße selbstvergessen und konzentriert im Takt seiner Arbeit wippen. Das Fenster war mit einem Vorhang verhängt, dessen fotografischer Aufdruck ein Bild der Zerstörung zeigte; einzelne hohe Trümmer ragten aus einem wüstenförmigen Gelände empor, über dem ein zarter Dunst lagerte; Achermann hatte zuerst an einen Friedhof mit hohen Obelisken gedacht. Aber es waren Wolkenkratzer, eine Stadtlandschaft, die nur aus Monumenten bestand.
Eine Weile sahen sie dem Schauspiel zu, dessen Akteur nur körperlich anwesend war; dann schickte es sich nicht mehr, ihn länger zu belauschen. Zwei Stockwerke tiefer, in der Kachelofenstube, kehrten sie ins Tageslicht zurück. Die lange Zeile der Sprossenfenster zerschnitt eine weite Aussicht zum kleinteiligen Bilderbogen. Es roch nach Wachs und Honig. An diesem Tisch hatten die Eltern Wirz ihre Hausandacht gehalten.
Salomon, berichtete Sidonie, ging aufs Gymnasium, nachdem er von der Grundschule freigestellt war, mit behördlicher Erlaubnis. Seine mathematische Begabung war so ausgeprägt, daß ihn der Unterricht nur langweilte; auch sprachlich lag er weit über dem Durchschnitt. Anderseits verstand er immer wieder die einfachsten Gedankengänge nicht, sobald Gefühle im Spiel waren. Beim Versuch, sie zu lesen, konnte er wie ein Idiot wirken. Da emotionale Intelligenz auch im sozialen Kontakt nicht zu entbehren ist, hatte er sich zum Einzelgänger mit autistischen Zügen entwickelt. Ließ man ihn reden, so konnte man über seinen Zugriff nur staunen, auch auf entfernte Zusammenhänge. Nur durfte man ihn dann nicht in ein Gespräch verwickeln, denn regelmäßig stieß er sich an einem Denkfehler des Partners. Blieb der andere bei seiner Ansicht, ohne sie logisch ausreichend zu begründen, konnte Salomon die Fassung verlieren.
So hatte er die ersten Jahre der Schulpflicht mit Privatunterricht verbracht. Da er die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium bestanden hatte, wollte man der öffentlichen Schule noch eine Chance geben. Aber der erhöhte Leistungsanspruch öffnete die Schere in seinem Kopf noch weiter. Während er im exakten Denken Hochschulreife besaß, fiel er, wenn es auf Ermessen und Vorstellungskraft ankam, um so deutlicher ab. Heftige Reaktionen hatte er in Gesellschaft zu unterdrücken gelernt; jetzt blieb ihm nur noch der Ausweg ins Schweigen. Mündlich beteiligte er sich am Unterricht gar nicht mehr. Seine Aufsätze waren streng gebaut und knapp formuliert. Auch in Latein schaffte er passable Zensuren, weil sich
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