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Sax

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Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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auch eins weg, und ich sage dir, welches. Ich weiß, wie man mit ihm sprechen muß. Gott ist kein Christ, er ist hart. Sie sind es nicht, das wußte ich, als ich Ihre Schriftsätze las. Der unschuldige Hubert Achermann – an das wirklich Böse glaubt er nicht. Hassen Sie mich?
    Nein, sagte Achermann.
    Schade. Aber nicht wahr. Als ich die Ehre hatte, von Ihnen begattet zu werden, sah ich den Haß in Ihren Augen. Er machte Sie zum Mann. Ohne ihn hätte ich kein Kind.
    Es geht auch mit Liebe, sagte Achermann.
    Bei Ihnen? fragte sie. – Da hätte ich lange warten können. Aber bei mir ginge es auch nicht. Wissen Sie, was man mir am Theater gesagt hat, wenn ich für eine Rolle nicht in Betracht kam? –
Dafür sind Sie zu sehr Persönlichkeit, Sidonie
. Ich wäre auch für den Mann, dem ich meine Liebe antäte, bald zu sehr Persönlichkeit, und wer für jedes Theater zu sehr Persönlichkeit ist, braucht eine Bühne für sich allein. Ich kann kochen, lieben kann ich nicht, Herr Doktor Achermann.
    Doch, Sie können.
    Wenn ich’s gelernt habe, darf ich wieder bei Ihnen vorbeikommen?
    Warum sehen Sie diese Hefte durch?
    Ich lese die Schulaufsätze meiner Pflegeeltern, meine sind verloren. «Der Garten im November». «Schulreise auf den Großen Mythen». «Ein trauriger Tag». Vatis Aufsätze sind unglaublich artig. Fehler macht er fast keine, und fast immer steht «gut» oder «sehr gut» darunter.
    Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, misten Sie diesen Raum aus, aber restlos. Sogar die Steine.
    Sie faszinieren mich wieder, Hubert Achermann, sagte sie.

10
1985–1989. Sternwarte
    Im Juni 1985 war es soweit, daß Achermann, Asser & Schinz das Haus «zum Eisernen Zeit» kauften. Peter Leu mußte froh sein, es abzustoßen, nicht nur aus finanziellen Gründen – es war ein verfluchter Ort geworden, und wenn der Fluch an der Person hing, nicht am Gebäude, würde er ihn, wie schon seinen Vater, an jeden anderen Ort der Welt verfolgen.
    Dabei hatte sich alles wieder so verheißungsvoll angelassen. Leu war nicht nur sein Schnalzen im Ohr losgeworden, auch das Geschäft erholte sich, und entsprechend seine Lebensstimmung. Vera blühte auf, auch wenn sie in Reinhold Dörig beinahe einen Lebensgefährten verloren hatte. Sein Leiden hatte dem Paar sein Glück nicht verbittert, nur weil ihm etwas zur Erfüllung fehlte; fast im Gegenteil. Veras Finesse, um die sich bisher noch kein Mann gekümmert hatte, kam um so schöner zur Geltung. Leu war von einem düsteren Chef zu einem beinahe genießbaren geworden. Er hatte die Lehrtochter befördert, eine neue, fröhliche eingestellt und reiste wieder zu Auktionen. Sogar sein Verhältnis zum alten Schinz wurde durch einige passende Verkäufe repariert. Auch wenn keine blaue Mauritius seines Weges kam.
    Die Wende begann am Mittwoch nach Pfingsten 1986, einem Datum, das die Eheleute Leu nie mehr vergessen sollten, auch wenn ihre Erinnerung fatal auseinanderging.
    Frau Elisabeth hatte an jenem Tag zum ersten Mal seit Jahren das Haus «zum Eisernen Zeit» wieder betreten. Sie wollte ihren Mann überraschen, und das gelang ihr nur zu gut. Es war vier Uhrnachmittags; Vera teilte mit, Leu sei kurz in seine Wohnung gegangen. Als Frau Elisabeth diese betrat, fand sie ihren Mann und Marybel in einer Situation, die sie für unzweideutig hielt. Ihr Gatte lag nackt auf seiner Liege, und Marybel massierte ihn – durchaus nicht in der Form, die als «Feinmassage» bekannt ist. Was Elisabeth nicht wissen konnte und später auch nie hören wollte: es war seit der Austreibung des Tinnitus das erste Mal, daß Marybel Hand anlegte. Leu hatte sie darum gebeten, weil ihn ein hartnäckiges Kopfweh plagte. Daß er sich für die Behandlung nackt machte, hielt sie allerdings für selbstverständlich. Um seine Blockaden zu lösen, mußte sie ihn
spüren
, und er sich selbst auch. Aber Elisabeth sah das alles nicht, und was sie sah, ließ sie erstarren.
    Das ist keine Übertreibung. Es sollte Peter Leu, der die Sache anfangs mit seiner sauer erworbenen Fröhlichkeit zu nehmen versuchte, nicht mehr gelingen, sie ins Harmlose zu wenden. Elisabeth ließ keine Bagatellisierung einer Szene gelten, der sie eine fundamentale Beleidigung ihrer Würde entnahm – und einen Hohn auf alles, wofür sie ihr Leben lang gestanden hatte. Für Leu war Marybel etwas wie der letzte Strohhalm gewesen; seine Ehefrau aber verhielt sich so, als habe er sich unter allen Töchtern des Landes umgeschaut, um ihr mit der schmuddligsten das

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