Sax
Fluchtreflex wurde unwiderstehlich. Er simulierte einen Hustenanfall, der ihn zwang, an Vater und Mara vorbei überstürzt das Freie zu suchen. Und als es gewonnen war, wußte er auf der Stelle nicht mehr, was er da sollte, und der Husten wurde ehrlich.
Plötzlich fiel ihm die Parterrewohnung am Ligusterweg ein, von der Hubert gesprochen hatte, mit ihrer Belegschaft unbekannter Filipinas. Es war vier Uhr, vielleicht hatten die Damen noch einen Termin frei. Die Wohnung lag im Wasserfeld und war in einer Viertelstunde zu Fuß erreichbar. Er war noch ganz in Schwarz; die passende Tracht für Freiersfüße.
Er fand einen Block aus den zwanziger Jahren mit maritim gerundeter Fassade; die Tür stand offen, so daß er gleich ins Hochparterre steigen konnte. Das Türschild war leer. Er klingelte, hörte aufgeregte Bewegung drinnen; als ihm aufgetan wurde, stand er vor vier asiatischen Frauen in großer Toilette. Zwei trugen einen Schleier über dem Haar, und die vorderste kniete nieder, um seine Hand zu küssen. Sprachlos beschloß er, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Im kleinbürgerlichen Wohnzimmer war ein Altar aufgebaut, geschmückt mit Blumen, Kruzifix und Weihwasserbehälter vor dem Bild einer Postkarten-Maria; davor brannten drei Kerzen. Die Frauen flüsterten, und die vorderste, eine Kleine mit pockennarbigem Gesicht, stellte sich als Michelle vor und redete ihn als Padre an. Er wurde durch die Wohnung in ein kleines Schlafzimmer geführt. Im Bett lag ein blasses Geschöpf mit kurzem Haar, starken Jochbeinen, flachen Wangen und breiten Lippen, dessen offene Augen zur Decke starrten. Das sei Florian, erklärte Michelle, dem er doch bitte Trost spenden möge.
Da Jacques keine Ahnung hatte, weswegen Florian getröstet werden sollte und womit, mußte er jetzt in seinem besten Spanisch um eine Erklärung bitten. Michelle wollte diese offenbar nicht in Gegenwart des Kranken abgeben und öffnete die Tür zum nächsten Raum. Mittendrin stand die nur mit einem frischen Laken bezogene Liege, die Wände waren mit Comicbildern behängt, die ein bewimpertes Bambi mit Augenaufschlag zeigten, doch das Kruzifix mit dem leidenden Leib des Herrn durfte auch hier nicht fehlen. Michelle erklärte auf englisch mit leiser, doch bebender Stimme, es sei nun das dritte Mal, daß Florian versucht habe, sich das Leben zu nehmen. Da er leider nicht gemeldet sei, wagten siekeinen Arzt zu holen oder in eine Klinik zu gehen. Alles, was sie für ihn tun könnten, sei eine Letzte Ölung, und Gott werde Hochwürden Bänziger dafür segnen, daß er ihn, Jacques, geschickt habe.
Dieser wollte gerade Farbe bekennen, da klärte sich das Mißverständnis von selbst auf. Denn wieder klingelte es, und diesmal stand, am Habit zu erkennen, unzweifelhaft ein Priester vor der Tür. Michelle ließ Jacques stehen, um dem richtigen Mann die Honneurs zu machen, einem hochgeschlossenen Milchbart, der mit hoher Stimme stockendes Spanisch sprach. Er packte sein Köfferchen aus und legte sich eine silberweiße Stola über die Schultern; als er an Jacques vorbeiging, trug er auf feierlich gewinkelten Armen ein Tablett mit gottesdienstlichem Gerät. Jacques war schon wieder bei der Tür, da hörte er Schreie, als würde einem Menschen Gewalt angetan. Er kam zurück und wurde Zeuge, wie die Frauen samt Pfarrer heftig aus der Tür gedrängt wurden, vom selben Geschöpf, das eben noch regungslos im Bett gelegen hatte. Jetzt entwickelte es so viel Kraft, daß der Geistliche das Gleichgewicht verlor und die stürzenden Gefäße ausleerten. Oblaten flogen durch den Raum, die Tür krachte ins Schloß; die Frauen hatten Pokal und Kruzifix gerade noch auffangen können. Der Pfarrer stand einen Augenblick starr; dann sammelte er sein Gerät ein, verstaute es mitsamt der hastig gefalteten Stola im Koffer und ging, ohne sich noch einmal umzuwenden, zur Tür hinaus.
Michelle betete vor der verschlossenen Tür eine flehentliche Litanei herunter, in einer unbekannten Sprache; endlich wurde der Schlüssel von innen gedreht. Statt zu öffnen, ließ sich Michelle zum zweiten Mal vor Jacques auf die Knie nieder. Er bat um Entschuldigung für sein Eindringen und stellte jetzt nicht nur sich, sondern auch seine Organisation mit Namen vor. Michelle bot ihm einen Stuhl an. Allmählich kam Florians Krankheitsgeschichte ans Licht, und die drei anderen Frauen begleiteten Michelles Erzählung mit heftigem Nicken.
Florian, ein vaterloser Verwandter Michelles, eigentlich Flordeliza getauft,
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