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Sax

Sax

Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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war, blieb er am liebsten in einer Kneipe hängen und empfand auch dort einen zunehmenden Druck von Ungastlichkeit, wenn er nicht immer weiter bestellte, bis er kaum noch gehen und noch weniger fahren durfte.
    Das hatte ihm kürzlich der junge Physiker abgenommen, mit dem er im «Domino» einige Partien Schach gespielt und alle verloren hatte. Seine Erscheinung war so kurios wie sein Name: NumaGaul; so stellte man sich Obelix als Gladiator in einem spätrömischen Zirkus vor. Allerdings spottete der schnelle Kopf des leiblichen Schwergewichts; Mineralwasser genügte ihm, um sich an seinem eigenen Witz zu berauschen, und Jacques lachte wieder einmal auf seinem Niveau, bevor er in trunkenes Elend abstürzte, worauf Gaul die ungleiche Partie abbrach und sich anbot, ihn nach Hause zu begleiten. Wo ist das? fragte Jacques zum ersten Mal laut, und es war ihm egal, ob er in den Augen des neuen Bekannten jetzt wie ein Stadtstreicher aussah. Aber Gaul geleitete ihn mit bemerkenswertem Zartgefühl zu seinem Auto, der
Déesse
, und als er feststellen mußte, daß damit noch nichts gewonnen war, setzte er sich auch ans Steuer. Wohin? fragte er, und Jacques sagte: «Ins Fabrikli.» Es war das erste, was ihm in den Sinn gekommen war, doch war der Einfall kein Zufall, und Gaul wußte auf der Stelle, worum es sich handelte, denn er startete den Citroën mit einem Ruck, worauf Jacques’ Kopf einmal gegen die Stütze, dann auf die Brust geschleudert wurde und dort liegenblieb wie eine geknickte Sonnenblume. Eine unbestimmte Zeit hing er in den Gurten, bevor ihn behutsame Hände wieder aufrichteten. Er blickte in die besorgten Augen Tövets und schloß die seinen wieder, da er eigentlich gar nichts mehr verstand. Aber dann fühlte er sich aufgehoben, ins Haus getragen und auf einem Bett abgelegt, und als er zugedeckt wurde, fiel er in eine erlösende Ohnmacht.
    Am nächsten Morgen beim Frühstück in der ehemaligen Webstube erfuhr er erst, was los gewesen war, verstand es nun erst recht nicht und wunderte sich, daß die
Déesse
fahrbereit vor der Tür stand; Tövet hatte Gaul in seinem Geländewagen in die Stadt zurückgefahren. Jacques schämte sich für die Umtriebe, die er verursacht hatte, und war dankbar, unter Menschen gefallen zu sein. Das «Fabrikli» lag eine halbe Autostunde von der Stadt entfernt im Oberland und war ein ländliches Anwesen, das bei der Umrüstung für das Industriezeitalter auf halbem Weg steckengeblieben war, als kleines Denkmal des Scheiterns zugenagelt wurde und jahrzehntelang vor sich hin döste, bis es David, genannt Tövet, gekauftund ein Asyl für Flüchtlinge aller Art darin eingerichtet hatte. Er gehörte selbst zu ihnen. Zwar hatte er sein Blumenkinderleben in der Stadtkommune einige Jahre mit der Stelle eines Entwicklungshelfers in Bolivien vertauscht, dann aber sein Engagement dem Staat wieder zurückerstattet, um sich selbst neu zu buchstabieren. Allerdings war der bewußtlose Wohlstand der Schweiz erst recht keine Alternative zur Armut auf dem Altiplano, doch immerhin produzierte er eine Not, mit der sich Tövet auskannte. So wurde er im «Fabrikli» zum Herbergsvater für andere, die ebenfalls dem Teufel vom Karren gefallen waren und mit nicht mehr ganz jungen Beinen immer noch den langen Marsch in ein verantwortliches Leben unter die Füße nahmen, ohne jeden Spaß daran zu vergessen. Das «Fabrikli» wurde zu einem Ort der Binnenkolonisation, wo immer wieder Durchreisende eine Weile Atem schöpfen konnten, ein Daueraufenthalt für niemanden. Aber es gab inzwischen doch fünf oder sechs Leute, die sich dieses Niemandsleben schmecken ließen, und viele andere, die nur Tövets selbstgemachter Pasta wegen kamen. In seiner halbidyllischen Gottverlassenheit war das «Fabrikli» das passende Wahrzeichen für eine Utopie, die auf alltägliches Minimum geschrumpft war. Tövet gehörte zu denen, die keinem Klimawandel in die Schuhe schieben, wenn dem Nächsten die Füße einfrieren, sondern für warme Socken sorgen. Freilich machten sich die Gäste auch wieder auf dieselben, wenn das Gröbste vorbei war und sie die Angst beschlich, für so bedürftig angesehen zu werden, wie sie eigentlich waren. Es hatte Stil, etwa für eine Nacht im «Fabrikli» unterzukommen, wenn man elend war, aber noch wäre es für Jacques das Letzte, weil das Nächste zum Armenhaus gewesen, endgültig dort zu landen.
    Nun aber, nach einer Trauerstunde zwischen seinesgleichen, hatte auch er hier am längsten gesessen, und der

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