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Sax

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Titel: Sax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Muschg
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war dem Körper nach weiblich, hatte aber nie ein Mädchensein wollen und in seinem Dorf nur mit Jungen gespielt. Mit neun Jahren hatte er sich das Bild eines japanischen Soldaten auf die Brust tätowieren lassen, und als er mit elf einen Büstenhalter tragen sollte, riß er in die Hauptstadt aus und war ein halbes Jahr lang ein Straßenkind, bis die Polizei ihn aufgriff und Michelle als Verwandte ausfindig machte. Aber das Kind kehrte zu seiner Gang zurück, wurde nach dem Überfall auf eine Tankstelle verhaftet und nur wegen Überfüllung des Gefängnisses wieder laufengelassen, mit Auflagen, für die Michelle verantwortlich war. Flordeliza wurde zum Schulbesuch befohlen und zu den Mädchen gesetzt, worauf es die Lehrerin mit einer Schere angriff. Danach hatte es versucht, sich eine Ader aufzubeißen, aber als es in Jeans gehen durfte, habe es sich als erträgliche, sogar gute Schülerin gezeigt. Inzwischen hatte Michelle in einer Reisegruppe, die zu einem Geistheiler fuhr, einen Schweizer kennengelernt, Oskar, der ihr die Ehe versprach. Als er zurückgekommen sei, hätten sie wirklich geheiratet; sie seien in die Schweiz gefahren, wo sie als Spitalhilfe Arbeit gefunden und der Familie jeden Monat Geld geschickt habe. Doch die Nachrichten von Flordeliza seien katastrophal gewesen. Sie sei bei einem Geistheiler gewesen, und der müsse etwas Schreckliches mit ihr gemacht haben. Sie habe zwar aufgehört zu bluten, aber sie rede nicht mehr, und einen Arzt wolle sie nicht sehen – der käme auch viel zu teuer.
    Michelles Mann Oskar, als Bäcker arbeitslos geworden, habe verlangt, daß sie anschaffe, statt Geld nach Hause zu schicken, aber als sie ihm zuwenig nach Hause brachte, habe er sie halb totgeschlagen. Da sei sie ausgezogen, in diese Wohnung, und habe mit drei Frauen, die ähnliches erlebt hatten, einen Salon aufgemacht. Anfangs bedrohte sie der Mann, aber sie drohte zurück, dann sehe er kein Geld mehr; Sex hatte er immer noch verlangt. So lasse sich natürlich kaum was verdienen. Da die Verwandtschaft schrieb, Flordeliza hungere sich zu Tode, habe Michelle den Entschluß gefaßt, sie in die Schweiz kommen zu lassen, ins Land der besten Ärzte; da müsse es ja auch einen geben, der sie zum Mann operieren könne.Michelle hatte das Reisegeld zusammengespart, die Verwandtschaft einen Paß besorgt, und vor drei Monaten stand das Kind wirklich da, natürlich mit einem Touristenvisum. Sie kannte einen Arzt, der habe nur gelacht. Für eine Geschlechtsumwandlung brauche man zwei Jahre und viele Gutachten, damit die Kosten, mindestens sechsstellig, von einer Krankenkasse übernommen würden, aber wer weder Geld noch Beziehungen habe, könne den Eingriff vergessen. Michelle hatte die genannten Kliniken trotzdem angeschrieben und wenigstens von einer eine Antwort erhalten, doch keine ermutigende. Es gab eine lange Warteliste, und mit jedem Versuch, die nötigen Papiere zu beschaffen, hätte man nur die Polizei darauf aufmerksam gemacht, daß Flordelizas Aufenthaltserlaubnis abgelaufen war. Anfangs habe sich alles so gut angelassen, das Kind sei dienstfertig gewesen, habe schon erstaunlich viel Deutsch gelernt, auch wenn sie die Arbeit der Frauen verachte, aber inzwischen spüre sie, daß ihr Projekt aussichtslos sei, und das ertrage sie nicht. Man habe Messer und Scheren weggeschlossen, damit sie sich nicht weh tun könne, dann habe sie eine Schachtel Trockenspiritus-Tabletten gefunden und eine unbekannte Menge davon geschluckt. Zum Glück hatte ihr der Arzt, ein Freund, noch rechtzeitig den Magen ausgepumpt. Jetzt aber esse sie endgültig nicht mehr und sei sehr schwach geworden. Man dürfe keinen Menschen ohne die heiligen Sakramente gehen lassen, darum habe sie Hochwürden Bänziger von der Heiliggeistkirche um einen Priester gebeten – und nun. Und nun …?
    Alles Weitere ging in einem Tränenstrom unter. Jacques unterdrückte die Bemerkung, daß das sterbensschwache Kind gerade einen Priester hinausgeworfen hatte. Er verlangte es zu sehen, Michelle möge dabeisein und dolmetschen. Das Kind protestierte nicht, als er sich an sein Bett setzte, und hatte die Augen offen; das Gesicht unter dem kurzen Haar war streng und wachsam. Er werde helfen, erklärte Jacques, er sei Anwalt, kenne Ärzte, die sich um Florian kümmern würden. Mit den Behörden werde er reden.
    Und dann geschah es: das Kind richtete sich im Bett auf und zogdas Hemd hoch, bis zum Kinn. Es zeigte Jacques einen ausgemergelten Mädchenkörper mit

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