Sax
berufliche Fortbildung, übernahm ihren Verkehr mit Behörden und Ämtern, auch mit Ärzten, brachte aber auch viele freie Abende – eigentlich hatte er ja keine anderen – in ihrer Gesellschaft zu. Seit seiner Trennung von Mara und der Besetzung seiner Wohnung durch Daniela und Deirdre («die kann ich nicht aussprechen, aber mit der anderen kann ich nicht mal
reden.
») ging er in diesen Frauenfamilien, deren Sprache er gelernt hatte, nicht nur als Patron und Helfer, sondern als selbst Schutzbedürftiger ein und aus. Es war ein Grenzgang, er wußte es. «Ich habe ein neues Testament geschrieben: wenn ich im Dienst sterben sollte, möge man ihn am Grab beim rechten Namen nennen. Ich lasse mir jedes Laster nachsagen, aber Selbstlosigkeit denn doch nicht.» Was Jacques an diesen Frauen anzog, war «ihr polynesisches Blut ineinem katholischen Leib». Und als bekennender Materialist habe er Leib und Seele nicht trennen gelernt. «Die Frauen sind fromm, das glaubst du gar nicht.» Keine Fleischeslust ohne den Segen der Heiligen Jungfrau. «Man weiht ihr seine Kerze, solange sie brennt.»
Hubert nahm an, daß der Freund auch die Adresse am Ligusterweg kennen müsse. Es war diejenige von Huberts Physiotherapeutin, die er wegen eines chronischen Rückenleidens aufsuchte. Jeanette war eine alte Achtundsechzigerin mit starken Händen und sensiblen Fingerspitzen; in ihrem Treppenhaus war er zwei asiatischen Frauen begegnet, die im Parterre wohnten. Sie empfingen Besucher, und Jeanette war sich sicher, was diese dort suchten.
Aber Jacques war die Adresse neu, und er notierte sie sofort. «Das ist kurios. Sonst kenne ich doch alle. Die müssen sehr isoliert sein. Ich kümmere mich darum.»
Und wie geht es
deiner
Familie? fragte er, nachdem Hubert nachgeschenkt hatte.
Sidonie hat mich um einen Dienst gebeten. Sie ist ja nun Gemeindepräsidentin – es geht um eine Beziehung, die ihr schaden kann und dem Partner noch mehr.
Eine Liebesgeschichte? Und da fragt sie dich um Rat?
Wie du siehst.
Der Liebhaber ist Fritz Walder, nicht wahr?
Wie kommst du darauf?
Ich habe sie wandern gesehen, sagte Jacques, auf 2200 Meter Höhe. Vielleicht dachten sie, das Auge Gottes reicht nicht bis zur Höhe der Greina. Aber meines.
Seit wann wanderst du in den Bergen? fragte Hubert Achermann.
Seit ich Familie habe. Aber seit wann wandert Sidonie? Da muß die Liebe groß sein. Mit Fritz Walder! Wer hätte das von ihm gedacht.
Und Sidonie ist zu Schieß übergelaufen. Es überrascht mich nicht. Aber es ist grauenhaft.
Kürzlich war die Nachricht durch die Presse gegangen, SidonieWirz, Gemeindepräsidentin von Überseen, sei in die Vaterländische Partei eingetreten.
«Und das nächste wird sein, daß sie für den Nationalrat kandidiert.»
Jacques betrachtete das Programm Sidonies als Vorspiel der Machtergreifung. Der «Gugger», der jetzt unter dem Kürzel BZG – «Bluntschli-Zentrum im Gugger» – firmierte, beschäftigte sich mit der «Identität» des Landes und der Behauptung seiner Autonomie, wobei Redner aus dem In- und Ausland vor dem Beitritt zur Europäischen Union warnten und das Publikum ermutigten, am Eigensinn der Eidgenossenschaft festzuhalten. Da konnte sich Jacques über die Duldsamkeit Huberts nur wundern. Wozu eigentlich bastelte er – in Fortschreibung seines «Gottesprozesses» – seit Jahren an einer europäischen Verfassung, ganz ohne Auftrag? – Im Namen Gottes des Allmächtigen, will ich hoffen.
Das war der Gott der allmächtigen Handels- und Gewerbefreiheit, bis zum Bankgeheimnis für Steuerbetrüger. Danken wir ihm dafür?
Glaubst du etwa, Schieß will den absetzen? Er ist doch selbst ein Matador des grenzenlosen Geschäfts – ein Nationalkapitalist, der sich auch noch das Volk kaufen möchte und dem zum Tyrannen nichts fehlt als die Ehrlichkeit – und einstweilen die Macht, vor der uns der Himmel behüte.
Jacques, erinnerst du dich an den Sonderbundskrieg?
Sehr dunkel. Er war hundert Jahre vor meiner Geburt.
Auf welcher Seite wärst du gewesen?
Nicht auf der Seite der Jesuiten.
Aber der Baumwollbarone? Der Eisenbahnmagnaten? Der Kreditanstalt?
Auf der Seite Bakunins.
Du wärst genauso eigensinnig gewesen wie heute. Wenn es für Anarchisten überhaupt einen Staat gäbe, wäre er total föderalistisch. Bluntschli war ein konservativer Schweizer im deutschen Exil, aber er war ein totaler Föderalist. Wir verdanken ihm die erste europäische Verfassung nach schweizerischem Modell.
Dann braucht
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