Sax

wie die alte Schlange, dann aber war der Herr wieder zur Stelle und begrub die Sünde mit seinem Fleisch in ihrem Fleisch. Siehe, dies ist mein Leib, siehe, dies ist mein Blut. Der Herr war ein
tesoro
, und alles, was sie brauchten, um ihm zu dienen, war
corazón
, ein großes Herz.
    Die Phantasie, es mit einem heiligen Mann zu treiben, machte sie erfinderisch. Und es kam so weit, daß die Dienstagabende die Schwelle zur Messe überschritten, und die Musik dazu war jetzt von Bach, Händel und Mozart. Der Herr brachte sie mit, und auch wenn die Frauen sie noch nie gehört hatten, sie wußten danach zu handeln. GLORIA, SANCTUS, MISERERE NOBIS, AGNUS DEI hinauf und herunter.
    Es begab sich aber zur selben Zeit, da Jacques Schinz die Dienstagsmesse zu feiern begann, daß Marybel an ihrem Leib plötzlich, außer der Reihe, eine starke Blutung feststellte. Der Kinderfresser biß zu. Sie vereinbarte einen Termin bei dem Frauenarzt, der früher zum Freundeskreis des UNO-Beamten gehört hatte. Diesmal klopfte er mit klinisch tastendem Finger an der heiklen Stelle an. Sie sah, daß er erschrak; beim Gespräch hatte er sich wieder gefaßt.
    Der Abstrich ist ungünstig, Marybel, sagte er, wir müssen ein CT machen, aber ich glaube, wir kommen noch rechtzeitig. – Ich denke darüber nach. – Wir müssen handeln, Marybel. – Es gibt jemanden, mit dem ich das erst besprechen muß.
    Hast du einen Freund? fragte er.
    Ich habe Freunde, sagte sie, aber ich lebe allein.
    Rufst du mich morgen an, bitte?
    Aber sie unterließ den Anruf; Fanny hatte ihr schon während der Untersuchung das Nötige eingeflüstert. Hast du vergessen, Marybel, daß Schmerz und Krankheit etwas ist, was wir selbst machen? Und was wir selbst machen, können wir auch selbst wieder zurücknehmen. Es kommt nur auf unser Selbst an. Und selbst sind wir stark.
    So verlor der Tod zum ersten Mal sein Recht auf Marybel.
    Aber auch das Geschäft der Universaltherapie, die Moritz jetzt von London aus betrieb, war seit dem Jahr 1989, das sich als Wende deklariert hatte, munter fortgeschritten. Es war, im Kern, ein homöopathisches Verfahren nach dem alten Prärierezept: gegen Steppenbrand hilft nur Gegenfeuer. Dabei schienen dem Wachstum des Kapitalismus keine Grenzen mehr gesetzt.
    Als Moritz im Haus «zum Eisernen Zeit» vorbeikam, erklärte er den Freunden, was passiert war und was nicht passieren durfte. Man möge sich durch den Triumphalismus des Marktes nicht verrückt machen lassen. Das System bereite jetzt, durch eine schwindelerregende Expansion, seinen eigenen Zusammenbruch vor. Der «Zinstragende Sparhafen» und seine globalisierten Töchter waren glücklicherweise auf einen grünen Zweig gekommen. Aber er war, wie die Mistel, von anderer Art als der Wildwuchs, von dem er sich nährte. Seine Zellen hatten die Eigenschaft, das entgleiste Wachstum des Wirts zu entgiften. Der gutartige Parasit setzte dem Stoffwechsel der Gier so lange zu, bis dieser Allergien gegen sich selbst entwickelte, die heilsame Kraft der Autoaggression. Allmählich überlebte nur noch der Impuls der Lebensfreundschaft, welcherdie Zellen, von der Wurzel bis zum Blatt, unter sich und auch für die Nachbarschaft verträglich reorganisierte.
    Moritz sprach von einer Impfung des Wirtschaftskörpers mit
Isotopen
: einem Element, das die Struktur eines Moleküls nachahme und die Kontrollen daher unbemerkt passiere. Es führe einen vom Auge nicht bemerkten, wohl aber für das Gefühl wirksamen Faktor mit, der es quasi radioaktiv mache, nicht explosiv, doch evolutionär. Unmerklich verändere es mit den Gebrauchenden den Gebrauch.
    Dieses Element nannte Moritz: Unkäuflichkeit. Ausgerechnet dem Geld zugesetzt, dem allgemeinen Tauschmittel, entwickle sie paradoxe Marktkraft. Bald würden die unvorstellbaren Kapitalströme, die das Ende des kalten Kriegs lockermache, und die Gewinnerwartung der Investitionen, mit denen frei gewordene Länder besetzt würden, jeden Bezug zur real existierenden Wirtschaft verlieren und beim Abheben, wie Windhosen, alles verkehrte Wesen mitreißen und verpuffen lassen. Betrachte man diesen Flugstaub konkret, so bestehe er aus Menschen, denen der spekulative Wirbel Arbeitsplätze und Lebenspläne vernichte, als handle es sich nur um Verbrauchsmaterial. Aber da liege der springende Punkt: im Unterschied zwischen Verbrauch und Gebrauch. Kein Mensch werde sich auf die Dauer als Verbraucher verkaufen lassen und zu den blinden und ahnungslosen Komplizen allgemeiner Vernichtung