Sax
naturgemäß dem BCG, dem «Bluntschli-Center im Gugger», dessen Wahrzeichen der rot-weiße Riegelbau blieb. Die Gäste waren auf dem Vorplatz des Kongreßgebäudes von der Hausherrin und, einen Schritt dahinter, ihrem Mann einzeln begrüßt worden. Ein Appenzeller in Tracht und mit Hackbrett spielte auf, dazu wurde ein Weißer aus der «Goldhalde» gereicht, dem letzten Jahrgang vor ihrer Überbauung. Daß das Zentrum eine Scheune gewesen war, konnte man ihrem Profil noch ansehen – darauf hatte der Heimatschutz bestanden. Doch hatte der Architekt das Objekt ausgeweidet und die nach Norden geneigte Dachseite verglast; sie schimmerte, wenn der Saal beleuchtet war, wie der Schliff eines Kristalls ins Land hinaus. Unter der anderen Dachhälfte waren Büros untergebracht, aber der Boden schwebte auf Stützen, so daß das Erdgeschoß durchgehend war. Unter dem Glasdach lag der große Saal, und eine getreppte Rampe, bei großen Anlässen als Tribüne zu gebrauchen, führte in ganzer Breite zum Oberstock hinauf, der ihr Übersetzerkojen und technische Büros zuwandte. Wurde ein intimer Raum benötigt, so verschwand die Tribüne hinter einem raumhohen weißen Vorhang.
Heute aber zeigte sich der «Rudolf-Minger-Saal» in voller Größe. Mobile Holzkuben, die sich zur Bühne in jeder Form zusammenfügen ließen, waren zur kompakten Plattform vereinigt. An der Rampe ein Stehpult, zur linken Hand, ebenerdig, der Steinway-A-Flügel, an dem Sebastian Kind, ein ortsansässiger Pianist, Backgroundmusik im Stil Astor Piazzollas improvisierte, um die Gäste allmählich in den Saal zu locken. Dieser war nach einem populären, vor allem wegen seines unfreiwilligen Sprachwitzes gern zitierten Bundesrat benannt, Minger, vor dem Zweiten Weltkrieg eine Säule der Bodenständigkeit und Wehrbereitschaft. Die bloße Nennung seines Namens pflegte in der älteren Generation die Stimmung zu lockern und bot Gelegenheit, ausländischen Besuchern den Eigensinnschweizerischer Neutralität zu erläutern, meist umsonst. Rechter Hand, parallel zum Kongreßsaal, doch nicht einmal halb so hoch, lag das Café Marignano, dessen Name vor allem auf eine gepflegte italienische Küche, aber auch auf eine sinnstiftende Niederlage der alten Eidgenossen deutete, die 1515 ihren Rückzug aus der Weltgeschichte nahmen, «nicht besiegt, sondern vom Siegen ermüdet», wie sich ein Feldherr der Gegenseite ausdrückte. An der Wand stand freilich nicht dieser Satz, sondern die Warnung des einheimischen Heiligen Nikolaus von Flüe:
Macht den zun nit zu wit!
Es war also beim europakritischen Dialog, der am BCG gepflegt wurde, für
conversation pieces
gesorgt. Im übrigen war das Café Marignano für Selbstbedienung ausgelegt, bis auf eine weiß gedeckte Ehrentafel. Der Tresen des Büffets zog sich in ganzer Länge unter der Tribüne hin und wurde aus der Küche im Untergeschoß beschickt. Das Café lag nach der Sonnen- und Aussichtsseite, die Glaswand ließ sich zur Terrasse öffnen, wo der Blick an einem Föhntag so klar ist, daß die Alpen zum Greifen nahe rücken. An der Rampe wehten drei Fahnen – des Landes, des Kantons und des «Gugger»: eine Garbe Kolbenschilf.
Achermann, der im «Gugger» übernachtet hatte, war schon frühmorgens zum Weiher gegangen, und dann noch weiter den Berg hinauf bis zum Waldrand. Er war frisch begrünt; das Licht des Sees verstärkte den Glanz des Bildes vor seinen Augen, aber es blieb ein Bild, wie gefangen in seiner Schönheit. Es fehlte etwas daran, als habe sich die Seele verflüchtigt und nur eine malerische Ordnung bestehen lassen. Vielleicht lag der Defekt aber auch daran, daß er nicht recht sah. Die ungleichartigen Augen hatten ihm schon als Kind zu schaffen gemacht. Sie ermüdeten rasch, begannen halb oder doppelt zu sehen, und wenn sich auch noch bestimmte Phantome, dem Grundriß einer Zitadelle ähnlich, ins Blickfeld schlichen, wußte er: die Migräne hatte ihn wieder. Da half nur, die Augen zu schließen und sich einigen Stunden wohltätiger Dunkelheit zu überlassen.
Er hatte schlecht geschlafen; aus dem noch fast lichtlosen Steingartenvor seiner Gastklause hatte ihn ein stummes Grauen angeblickt, als drohe hinter den fünf Sinnen, die er noch bei sich hatte, die Person abhanden zu kommen, die sie zusammenhielt. Er spürte, daß die Mechanik, die auf Menschen und Dinge reagierte, ins Stocken geraten war. Er konnte jederzeit ausfallen, ohne daß er selbst von der Bildfläche verschwand. Er blieb einfach stehen wie ein
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